Es ist der erste Auftritt Angela Merkels seitdem sie nicht mehr Kanzlerin Deutschlands ist. Gut ein halbes Jahr nach Amtsabtritt stellt sie sich öffentlich erstmals den Fragen des SPIEGEL-Journalisten Alexander Osang. Gleich zu Beginn plaudert die Ex-Kanzlerin über ihr Privatleben.
Alexander Osang, DER SPIEGEL
»Wie geht es Ihnen eigentlich?«
Angela Merkel, Altkanzlerin
»Ich habe freiwillig aufgehört als Bundeskanzlerin. Das ist auch ein schönes Gefühl. Und ich habe mir dann ein paar andere Dinge vorgenommen zu tun. Das ging im Grunde in zwei Richtungen, sage ich jetzt mal. Mehr Bewegung, weil das war wirklich zu kurz gekommen. Und zum Zweiten: Sachen lesen, zu denen ich nicht gekommen bin. Ich habe immer mal kurze Bücher gelesen, oder Bücher angefangen zu lesen. Aber so ein richtiges dickes Buch mal zu lesen, das war schön. Ich habe das Feld, was Sie alle längst kennen, das Hörbuch mir ein bisschen erarbeitet. Das Schöne ist, dass man sich da nicht ganz so konzentrieren muss wie beim Lesen, finde ich.«
Alexander Osang, DER SPIEGEL
»Ich habe gehört, Sie haben Shakespeares gehört.«
Angela Merkel, Altkanzlerin
»Macbeth.Ja.«
Alexander Osang, DER SPIEGEL
»Relativ herausfordernd.«
Angela Merkel, Altkanzlerin
»Danach noch Don Carlos, volle Länge.«
Melanie Amann, DER SPIEGEL
»Hier war wirklich der Versuch der Altkanzlerin, sich als Privatperson zu präsentieren, zu inszenieren, zu erklären. Man hat schon bei Merkel den ehrlichen Wunsch gemerkt, auch jetzt als Privatperson angesehen zu werden und auch ein Stück weit in Ruhe gelassen zu werden. Es war ja so, dass sie mehrmals darauf hingewiesen hat: Ich habe jetzt auch auf diese harten Termine keine Lust mehr. Ich wurde verspottet dafür, dass ich jetzt angeblich so einen Kuschel-Termin machen würde. Und ja, das ist auch so, also sie sucht sich die Sachen aus, sie nimmt sich diese Freiheit und sie hat heute durch diese Veranstaltung das Signal geben wollen: Ich habe die Kontrolle über die Termine, die ich mache und ihr könnt mir gar nichts.«
Angela Merkel, Altkanzlerin
»Ich bin Bundeskanzlerin a.D.. Ich bin keine ganz normale Bürgerin. In dem Sinne nicht, dass ich fast noch vorsichtiger sein muss, zu den heutigen aktuellen Dingen was zu sagen, als jeder, der von Ihnen hierher kommt, weil ja immer gesagt wird: Ah, Merkel sagt so und Scholz hat aber gesagt, und der hat gesagt, und dann hat man es, steht man wieder plötzlich voll im politischen Leben. Das ist nicht meine Aufgabe, Kommentare von der Seitenlinie zu geben. Ich suche ja noch nach meinem Weg: Was ist eine Bundeskanzlerin a.D.. Ich habe ein Büro – wie ich gelesen habe auch ein sehr großes – ich habe ein schönes Büro, ein gutes. Auch mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Aber eins hab ich mir auch vorgenommen, dass ich mir auch ein bisschen meine Formate aussuchen kann. Und wenn ich dann lese, ja – ich will jetzt keine Journalistenschelte betreiben – aber Wohlfühltermine. Merkel schleicht sich zurück und macht jetzt nur noch Wohlfühltermine. Da sage ich: ja.«
Melanie Amann, DER SPIEGEL
»Es war Merkel sicher wichtig heute Abend auch noch mal klar zu stellen, wie scharf und hart sie diesen Krieg verurteilt.«
Angela Merkel, Altkanzlerin
»Dieser Überfall auf die Ukraine, der am 24. Februar stattgefunden hat, findet keinerlei Rechtfertigung. Das ist ein brutaler, das Völkerrecht missachtender Überfall, für den es keine Entschuldigung gibt.«
Melanie Amann, DER SPIEGEL
»Ein bisschen ist das natürlich auch Selbstverteidigung, denn wenn nichts eine Rechtfertigung ist für diesen Krieg, dann hat sie auch nichts falsch gemacht, was zu diesem Krieg hätte führen können. Aber es war ihr glaub ich wichtig, diese Botschaft noch einmal zu senden, dass das wirklich ein barbarischer Akt ist, dieser Krieg und ein Zivilisationsbruch, den sie auf keine Weise akzeptabel findet.«
Alexander Osang, DER SPIEGEL
»Sie haben kurz erwähnt, dass Sie sich natürlich gefragt haben, was man hätte machen können, wo Ihre Versäumnisse lagen. Was kommt Ihnen als erstes…«
Angela Merkel, Altkanzlerin
»Was man hätte machen können, müssen ja nicht immer Versäumnisse sein aber… Wir sind jetzt immer so schnell dabei. Ich habe mich versucht, noch mal wieder in die Zeiten zu versetzen und bei näherer Betrachtung an manchen Tagen in denen ich so darüber nachgedacht habe, hatte ich den Eindruck, dass ich mich eigentlich in meiner ganzen Kanzlerschaft ununterbrochen mit den Fragen [beschäftigt] habe, die aus dem Zerfall der Sowjetunion und den daraus entstehenden Konstellationen entstanden sind.«
Melanie Amann, DER SPIEGEL
»Ich fand es sehr interessant, dass sie herausgearbeitet hat, an welcher Stelle sich Wladimir Putin und sie schon sehr früh in ihrer gemeinsamen Zeit, schon 2007, also zwei Jahre nachdem sie Kanzlerin geworden ist, auseinanderentwickelt haben. Dass der Dissens, wie sie es nannte, also der Clash, der Abgrund zwischen den beiden, sich in dieser Deutung des Schicksals der Sowjetunion manifestiert.«
Angela Merkel, Altkanzlerin
»Als ich Anfang 2007 Präsident Putin in Sotschi besucht habe, da hatte Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union. Dort haben wir zum ersten Mal das ausgetauscht, was er auch öffentlich gesagt hat – deshalb kann ich es jetzt auch sagen – dass für ihn der Zerfall der Sowjetunion die schlimmste Sache des 20. Jahrhunderts war. Und ich habe ihm gesagt: Weißt du, für mich ist war das der Glückszustand meines Lebens, und so konnte ich eben in die Freiheit und dann auch das machen, was mir Spaß und Freude macht. Und da war schon ganz klar, dass da ein großer Dissens ist. Und dieser Dissens hat sich immer fortentwickelt. Und es ist nicht gelungen, in all diesen Jahren sozusagen den Kalten Krieg wirklich zu beenden, wenn man es mal heute hart auf hart sieht.«
Melanie Amann, DER SPIEGEL
»Da glaube ich hatte Sie als Ostdeutsche einen Vorteil vielleicht, ihn früher besser zu verstehen, auch eher nachvollziehen zu können: Was kommt da vielleicht noch auf uns zu. Ob sie daraus immer die richtigen politischen Schlüsse gezogen hat, ist eine andere Frage. Aber ihr war auf jeden Fall immer sehr bewusst, aus welcher Geisteshaltung heraus er arbeitet, wen er als Feind sieht, nämlich den Westen. Und dass die Ukraine dabei eigentlich nur ein Spielball war, ein Instrument, eine Geisel hat sie es genannt.«
Angela Merkel, Altkanzlerin
»Letztlich ist die Ukraine ja auch geopolitische Geisel des Westens. Putins Hass, Putins – man muss sagen – Feindschaft geht gegen das westliche demokratische Modell. Und er hat, und da war ich ja auch nicht blauäugig oder so, ich weiß noch sehr, wie ich oft Leuten gesagt habe, ihr wisst, dass er Europa zerstören will. Er will die Europäische Union zerstören, weil er sie als Vorstufe zur Nato sieht.«
Melanie Amann, DER SPIEGEL
»Ich fand das interessant, dass Merkel zu keinem Zeitpunkt auch nur den Hauch von Reue – es klingt jetzt so vielleicht etwas moralisch überhöht – aber auch nur den Hauch von Bedauern, was man, was sie anders hätte machen müssen genannt hat. Sie hat sich ja, anders als Bundespräsident Steinmeier beispielsweise, als viele Politiker, die mittlerweile gezeigt haben, da lagen wir falsch, da hätten wir vielleicht hier vorsichtiger, dort offensiver sein müssen, hat sie sich vor allem erklärt heute Abend und gerechtfertigt. Sie hat sich keinmal entschuldigt. Sie hat keinmal gesagt: Da lag ich wirklich falsch, da habe ich mich geirrt, da war ich zu vorsichtig oder da war ich nicht offensiv genug, sondern es war letztlich ein Abend der Rechtfertigung.«
Angela Merkel, Altkanzlerin
»Ich bin im Rückblick, wenn ich über alles summiere, eigentlich froh, dass ich mir nicht vorwerfen muss, ich habe es zu wenig versucht, ein solches Ereignis, wie es jetzt stattgefunden hat, zu verhindern, sondern ich habe es glücklicherweise ausreichend versucht mit dem französischen jeweiligen Präsidenten zusammen. Und das gibt mir jedenfalls eine gewisse Beruhigung.«
Melanie Amann, DER SPIEGEL
»Es sollte heute Abend nicht der Moment für Selbstkritik sein von Merkel, das merkte man. Das war der Moment für Selbsterklärung, vielleicht auch Rechtfertigung, Deutung. Es hätte insbesondere bei diesem Pipelineprojekt »Nord Stream 2« die Möglichkeit gegeben, dass Merkel so einen kleinen Fußbreit Kritik annimmt und zulässt. Stattdessen war sie aber gerade dort auch sehr offensiv. Sie hat gesagt, sie sei verärgert gewesen, dass die Amerikaner dieses Projekt mit Sanktionen verhängt haben. So geht man doch nicht mit Partnern um. Dabei begann dieses Projekt 2015, also nach der Invasion der Krim. Und sie hat ja zuvor ausführlich erklärt, dass das der Wendepunkt für sie gewesen sei, dass ab dem Punkt man sich keine Illusionen mehr machen konnte, dass Putin Europa zerstören will. Und da finde ich es interessant, dass zugleich dieses Projekt, das Deutschland sehr eng an Russland gebunden hat, von ihr als völlig legitim und rein ökonomisches Projekt immer noch angesehen wird, dass sie sogar noch die amerikanische Regierung kritisiert dafür, dass sie etwas dagegen unternehmen wollte damals.«
Angela Merkel, Altkanzlerin
»Ich habe mich im Zusammenhang mit »Nord Stream« sehr geärgert. Auch wenn man politisch unterschiedlicher Meinung ist. Präsident Biden war ja der Meinung und viele Amerikaner, dass »Nord Stream 2« falsch ist. Dass die Amerikaner das einfach so beantwortet haben, dass sie uns immer sanktioniert haben. Im Grunde hat man uns als Verbündete wegen einer anderen politischen Meinung wirtschaftlich unsere Unternehmen sanktioniert, die an diesem Projekt mitgearbeitet haben. Was man einfach nur kann, weil der amerikanische Markt so wichtig ist. Und das hat mich schon sehr geärgert. Das macht man mit dem Iran, okay, mit Russland jetzt. Absolut richtig. Aber dass man das so mit uns gemacht hat, fand ich nicht in Ordnung, wo wir gemeinsam in Afghanistan kämpfen und viele andere Sachen auch machen. Und Präsident Biden hat etwas ganz Außergewöhnliches gemacht, wofür ich sehr dankbar war. Er hat nämlich gesagt: Okay, ich will mich mit meinen Verbündeten jetzt wieder zusammenraufen und ich behandle euch eben nicht wie ein Feind, sondern wir machen eine gemeinsame Erklärung zu »Nord Stream 2«. Es ist klar, ich will das nicht. Es ist klar, ihr seid da aus verschiedenen Gründen noch dafür. Und dann haben wir eine Erklärung gemacht im Sommer ’21, mit der klar war und nichts anderes stand da drin, dass erstens conditio sine qua non für »Nord Stream 2« ist, dass die Ukraine weiter Transitland für Erdgas ist und zweitens, dass wenn Politik oder Erdgas als Waffe eingesetzt wird – siehe jetzt, was mit der Ukraine passiert ist – dass dann »Nord Stream 2« zur Disposition gestellt wird.«
Melanie Amann, DER SPIEGEL
»Die neue Angela Merkel ist eine selbstbestimmte Angela Merkel. Sie macht die Dinge, die ihr Spaß machen. Wenn sie reisen möchte, die Renaissance in Italien sich erschließen möchte, dann reist sie dahin mit ihrer Freundin Annette Schavan. Und dann ist ja auch egal, wenn die Leute sagen: Es ist Krieg, du darfst doch jetzt nicht reisen. Da sagt sie: Nein, diese Freiheit nehme ich mir und ich lasse mir nicht von der Tatsache, dass ich mal Bundeskanzlerin war, jetzt den Spaß verderben. Sie hört ihre Hörbücher. Sie wird wahrscheinlich an Universitäten lehren. Sie schreibt, das Buch hat sie heute noch mal erwähnt, mit ihrer früheren Büroleiterin Beate Baumann. Und ich glaube, dass sie wirklich heute Abend die Botschaft senden wollte, erwartet von mir nicht zu viel. Denn was ich mache, das… ich mache nur das, was ich selber machen möchte. Man hat insgesamt an diesem Abend gemerkt, dass Merkel mit einer Botschaft dahinkam. Sie wollte sich selber erklären, vielleicht mehr, als sie sich als aktive Kanzlerin erklären wollte. Es geht jetzt wirklich darum: Was ist ihr Platz in den Geschichtsbüchern? Ist sie dann ein Denkmal oder ein Mahnmal? Und heute Abend hat sie wirklich enorm viel Zeit und Intensität da rein investiert, zu erklären, warum hat sie als Kanzlerin so gehandelt? Warum hat sie uns energiepolitisch abhängig gemacht von Russland? Warum hat sie den Natobeitritt der Ukraine blockiert damals? Warum hat sie das Minsker Abkommen mit dem Inhalt moderiert, mit dem es dann letztlich zustande kam? Also sie hat sich wirklich sehr umfassend fast schon gerechtfertigt.«