SPIEGEL: Was hat der russische Überfall auf die Ukraine mit Ihrem Bild von Russland gemacht?
Schneider: Mich hat das umgehauen. Ich hätte es mir nicht vorstellen können, dass Wladimir Putin die gesamte Ukraine angreift und denkt, er komme damit durch. Wichtig ist mir aber auch: Es ist Putins Krieg, nicht der Krieg des russischen Volkes.
SPIEGEL: Es sieht allerdings bislang nicht so aus, als habe eine Mehrheit der Russinnen und Russen ein Problem mit Putins Krieg. War Ihr Bild vom russischen Präsidenten naiv?
Schneider: Ich habe Putin immer für einen harten, aber rationalen Menschen gehalten. Das war ein Fehler. Er bringt unendliches Leid über die Ukraine und er schickt ja auch russische Soldaten in den Tod, und es kümmert ihn gar nicht. Dieser Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit und auch an seinem eigenen Volk. Mittlerweile denke ich: Wir müssen alles wörtlich nehmen, was Putin sagt, diese ganze Erzählung von der vermeintlichen Wiederherstellung eines großrussischen Reiches. Ich halte bei Putin nichts mehr für ausgeschlossen.
SPIEGEL: An Warnungen aus Polen und anderen osteuropäischen Staaten hat es nicht gemangelt. Warum haben Sie das nicht ernst genommen?
Schneider: In Teilen war es Ignoranz. Auch mein Russlandbild war lange einfach deutlich positiver. Das hat viel mit Michail Gorbatschow zu tun, mit der Perestroika. Ich habe mir 1988 einen »I love Gorbi”-Sticker an die Jeansjacke geheftet. Das war ein stiller Protest gegen die DDR und ihre Führung, gegen den niemand was sagen konnte. Die mittel- und osteuropäischen Länder haben teilweise ganz andere historische Erfahrungen mit der Sowjetunion gemacht.
SPIEGEL: Bis heute sind die Ostdeutschen russlandfreundlich. Laut einer Civey-Umfrage sagen knapp 41 Prozent der Menschen im Osten, sie wollen eine Annäherung an Russland. Nur wenige mehr wollen eher eine Distanzierung, im Westen sind das zwei Drittel. Wie erklären Sie sich diese Differenz?
Schneider: Das hat sich schon verändert, vor dem Krieg waren noch deutlich mehr für eine Annäherung. Es gab in der DDR ja viele persönliche Kontakte auf unterschiedlichen Ebenen in die Sowjetunion. Sei es durchs Studium oder bei den Arbeiten an den Öl- und Gastrassen. In der Nähe des Ortes im Weimarer Land, wo ich aufgewachsen bin, waren viele russische Soldaten stationiert. Das waren arme Schweine, die wurden von ihren Offizieren wie Dreck behandelt. Mit ihnen haben wir kleine Tauschgeschäfte gemacht. In der Schule mussten wir Russisch lernen und haben uns dabei auch mit Kultur, Literatur und Geschichte des Landes beschäftigt. Auch der friedliche Abzug der russischen Soldaten 1994 hat unser Bild geprägt. Zur Wahrheit gehört aber auch, die Russen wurden erst richtig beliebt, nachdem sie das Land verlassen hatten.
Carsten Schneider, Jahrgang 1976, ist Ostbeauftragter der Bundesregierung. Der Erfurter gehört dem Bundestag seit 1998 an. Von 2017 bis 2021 war er Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion.
SPIEGEL: Sie haben vor Kurzem Tschechien besucht und fahren nächste Woche nach Polen. Warum?
Schneider: Das hat drei Gründe. Wir haben die Perspektive der mittel- und osteuropäischen Länder zu wenig beachtet. Das muss sich ändern. Ich sehe es auch als Aufgabe eines Ostbeauftragten, dieser Sichtweise mehr Raum zu geben. Zweitens: Wir beginnen gerade, das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation aufzubauen, bei dem es um die Umbruchserfahrungen nach der Wende geht. Das soll keine Nabelschau zwischen Ost- und Westdeutschland werden, sondern das Zentrum soll sich auch mit den Transformationserfahrungen in Polen, Tschechien und den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern beschäftigen. Und der dritte Punkt ist: Wenn wir Ende des Jahres aus russischem Öl aussteigen, ist die Raffinerie Schwedt auf Öl aus dem Hafen in Danzig angewiesen.
SPIEGEL: Deutschland bezieht ab Ende des Jahres kein Öl mehr über die Druschba-Pipeline – das gilt also?
Schneider: Das streben wir als Bundesregierung an. Bedingung dafür ist aber, dass wir in Ostdeutschland eine Versorgungssicherheit mit Kraftstoffen zu normalen Preisen haben. Der Verzicht auf russisches Öl ist eine gezielte politische Entscheidung, daraus folgt aber auch die Verantwortung der Bundesregierung für die Beschäftigten bei PCK in Schwedt und die Transformation des zukunftsträchtigen Standortes als Standbein für die Energiewende.
SPIEGEL: Die Hälfte der Ostdeutschen will einer Civey-Umfrage zufolge keine persönlichen Abstriche machen für ein Energieembargo gegen Russland.
Schneider: Das ist keine moralische Frage. Viele Ostdeutsche haben schlicht keine finanziellen Reserven. Es gibt im Osten viel weniger tarifgebundene Jobs, das Durchschnittseinkommen ist deutlich niedriger als im Westen und es gibt kaum Vermögen, die zwischen den Generationen vererbt werden. Viele haben kein Polster und deshalb schlagen höhere Benzin- und Nahrungsmittelpreise auch gleich viel stärker durch.
SPIEGEL: Was wollen Sie als Ostbeauftragter erreichen?
Schneider: Zum einen geht es darum, anstehende Entscheidungen positiv für den Osten zu beeinflussen. So positiv, dass wir wirtschaftlich in manchen Bereichen nicht nur an den Westen anschließen, sondern auch mal vorn sind – im Bereich Mikroelektronik und Photonik sind wir das schon. Dazu gehört auch, dass wir den Fach- und Arbeitskräftemangel angehen. Das wird nur über Zuwanderung möglich sein. Diese Einsicht hat sich noch nicht überall durchgesetzt. Schließlich will ich dazu beitragen, dass das Gesamtbild in Deutschland über den Osten differenzierter wird. Ich will weg von diesen Stereotypen, die von einigen Medien geprägt werden und den Osten auf Stasi, Nazis, Doping reduzieren.
SPIEGEL: Sie sind neben Klara Geywitz der einzige Ost-Sozialdemokrat in der Regierung. Was unterscheidet Sie von den Kollegen aus dem Westen?
Schneider: Na ja, wir kennen uns lange und uns verbinden bestimmte Erfahrungen.
SPIEGEL: Welche sind das?
Schneider: Sie war in Potsdam und ich in Erfurt, in einer sehr prägenden Jugendzeit. Wir haben den Zusammenbruch des alten Systems erlebt, und die Freiheit des Neuen.
Eintracht-Fan Carsten Schneider in der Spätphase der DDR: »Meine Welt war in Ordnung«
SPIEGEL: Hat Sie das mehr geprägt als die Zeit in der DDR?
Schneider: Auf jeden Fall, meine Jugend in der DDR war unspektakulär. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, habe schließlich in einem Plattenbau gewohnt und Radsport gemacht. Meine Welt war bis dato in Ordnung. Dann kam der Umbruch, ich war 14 Jahre alt. Meine erste revolutionäre Tat war mein Abschied von der FDJ. Die Neunzigerjahre waren brutale und anarchische Zeiten. Rechtsextreme Hooligans zogen durch die Straßen. Neonazis, die mit Baseballschlägern Reviere markierten, eine Polizei, die tatenlos danebenstand. Ich habe viel rohe Gewalt und Enthemmung gesehen. Ich weiß, wie Blut riecht. Außerdem hat die Arbeitslosigkeit dazu geführt, dass manche gestandene Männer damals abgestürzt sind, auch Väter in meinem Freundeskreis. Die DDR war eine Arbeitsgesellschaft und diese Umbrüche haben zur Entwertung von Biografien geführt.
SPIEGEL: Das hat bis heute Auswirkungen, meinen Sie?
Schneider: Natürlich. Bei den Daten zu Löhnen und Vermögen kann man auf statistischen Karten immer noch sehr deutlich den Umriss der DDR erkennen. Deshalb ist auch der Mindestlohn gerade für den Osten so wichtig. Seine Einführung und jetzt die Erhöhung bedeuten für sehr viele Menschen einen deutlichen Gehaltsanstieg. Die Erfahrungen der gebrochenen Erwerbsbiografien haben sich teilweise vererbt und beeinflussen die Lebenschancen und Entwicklungsmöglichkeiten der Nachwendegeneration daher weiter. Die Zeit des Lohndumpings muss im Osten endlich zu Ende sein.
SPIEGEL: Sie sind mit Anfang 20 in den Bundestag gekommen und sitzen heute im Bundeskanzleramt. Sie sind ein klassischer Wendegewinner. Haben die von Ihnen angesprochenen Menschen nicht eine enorme Distanz zu Ihnen?
Schneider: Für mich war immer wichtig, mit den Menschen im Gespräch zu sein. Ich rede nicht nur mit dem Betriebsleiter bei Zalando, sondern auch mit der Frau, die die Pakete packt. Ich versuche, ihre Lebenssituation zu begreifen und bei politischen Entscheidungen zu fragen, was diese für Menschen, die zwischen 1800 und 2200 Euro brutto verdienen, oder Alleinerziehende bedeuten. Ich will das Vertrauen dieser Menschen gewinnen.
SPIEGEL: Was heißt das konkret?
Schneider: Ich versuche erst mal die zu stärken, die vor Ort sind. Die die Zivilgesellschaft prägen und zusammenhalten. Bürgermeister und Theaterintendanten, aber eben auch die Menschen im Sportverein oder in den Gewerkschaften. Sie sind die Stützen der Gesellschaft, die wir als Politiker wiederum unterstützen müssen. Und dann gibt es Bürger, die ein völlig anderes Weltbild haben, die ihr Vertrauen in staatliche Institutionen und auch in die Medien verloren haben. Mit denen rede ich auch, das sind lange, mühsame Gespräche. Dafür nehme ich mir Zeit. Mein Terminkalender ist auch schon gut gefüllt, ich reise viel durchs Land.