1. Ist dieser Platz noch frei?
Deutschland bricht auf ins 9-Euro-Wochenende, da wird die Bahn-Begeisterung überschattet durch eine Unglücksmeldung aus dem Süden des Landes: Ein Zug in Garmisch-Partenkirchen ist entgleist, es gab mehrere Tote. (Alles Wichtige dazu hier und hier.)
Aber natürlich wird der Reiseverkehr enorm sein an Pfingsten – allen Mängeln der Bahn zum Trotz. »Kaum nehmen die Leute wieder den Zug«, schreibt mein Kollege Gerald Traufetter in der aktuellen SPIEGEL-Titelgeschichte , »war’s das mit der Pünktlichkeit. In der dritten Maiwoche kamen nur noch 59 Prozent aller Fernzüge laut Fahrplan an.«
Die Republik entdeckt also die Schiene. Zumindest jene, die nach Jahrzehnten der Stilllegungen noch übrig sind. Allzu fein jedenfalls sind die Verästelungen des Netzes nicht mehr, da kann es schon mal zu Verdickungen und Verstopfungen kommen. »In einem solchen Zustand ist die Bahn nicht in der Lage«, sagt ein Gewerkschafter und Lokomotivführer in unserer Geschichte, »die Verkehrswende zu unterstützen.«
Wie es derzeit zugeht auf den Bahnhöfen, Gängen und verschlafenen Nebenstrecken, zeigt der SPIEGEL in einem beispiellosen Selbstversuch. Wir haben rasende Reporterinnen und Reporter gezwungen, durchs Land zu bummeln.
Das Ergebnis ist ein Sittenbild in Echtzeit. So wird aus der Regionalbahn 23719 bei Flöha in Richtung Cranzahl die Durchsage gemeldet: »Liebe Fahrgäste, bitte nehmen Sie Ihre Gepäckstücke von den Sitzplätzen, um anderen Fahrgästen eine Sitzgelegenheit zu bieten.«
In Wahrheit, schreibt Peter Maxwill, könne man »froh sein, dass es noch Stehgelegenheiten gibt«. In der Zentrale wird derzeit noch geprüft, ob es »Flöha« und »Cranzahl« überhaupt gibt.
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Lesen Sie hier die ganze Titelgeschichte: Ticket ins Chaos
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Und: Warum Güterverkehr von der Schiene auf die Straße verlagert wird
2. Wie niedrig ist der Akkustand?
Als Harley-Davidson vor ein paar Jahren der internationalen Presse sein Elektromotorrad vorstellte, geschah dies natürlich auf der legendären Route 66 – weil der US-Hersteller vor allem einen Mythos verkauft, das Moped gibt’s sozusagen gratis dazu. Also glitten die Journalisten, so die hübsche Geschichte, auf ihren E-Bikes durch die Westernlandschaft. Ganz wie früher bei »Easy Rider«, nur nicht so laut.
Abends dann wurde in traditionsreichen Motels abgestiegen und bei einem Budweiser über die Lautlosigkeit oder auch Reichweite des Motorrads gefachsimpelt, während die Maschinen hinter dem Haus ihren Strom für den nächsten Tag tankten – von einem Dieselgenerator, der per Lkw mitgefahren worden war.
Die Aporien der Elektromobilität sind nicht von der Hand zu weisen. Dabei könnte es, zumindest in einem engmaschig mit Elektrizität und Steckdosen versorgten Land wie der Bundesrepublik, durchaus einen Tick besser laufen. Bis 2030 will die Bundesregierung mindestens 15 Millionen vollelektrische Pkw auf die Straße bringen. Im ersten Quartal dieses Jahres waren es nur 687.000.
Immerhin wird, wie mein Kollege Martin Wittler berichtet, das Auto immer mehr »zu einem Privileg wohlhabender Menschen« . Trotzdem: Wenn der schleichende Ausbau in diesem Tempo weitergeht, wird das nichts mit der Verkehrswende.
Meine Kollegen Martin Hesse und Arvid Kaiser haben für ihre aktuelle Geschichte recherchiert, woran es liegt – und sind vor allem auf »Geburtsfehler« beim Netzausbau gestoßen : »Hunderte Einzelanbieter haben einen Wildwuchs an technischen Lösungen und Abrechnungssystemen entstehen lassen.« Zudem dauerten die Genehmigungsverfahren zu lang, seien die Kommunen zu knausrig mit den nötigen Flächen für Ladeparks.
Die Krönung des Schlingerkurses allerdings ist der Tankrabatt, mit dem die Kosten für die Besitzer von Fossilbrennstofffressern an den Tankstellen künstlich im Bereich des Erträglichen gehalten werden können. Und das ist fast so absurd wie ein Dieselgenerator hinter dem Motel in der Wüste.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: So sabotiert Deutschland die Elektromobilität
3. Wohin sollen wir’s denn überweisen?
Eben erst hat der Kreml mit Blick auf das Sondervermögen für die Bundeswehr eine »Remilitarisierung« der bisher weitgehend demilitarisierten Deutschen bedauert, schon ist das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro beschlossen.
Für das Geld könnte man sehr grob geschätzt anderthalb Millionen Stellen im Pflegebereich schaffen, 300.000 Wohnungen bauen oder 40.000 Windparks anlegen. Ohne eine gescheite Verteidigung sind all diese Dinge natürlich keinen Pfifferling wert und ruckzuck kaputt gebombt.
Deshalb soll das Gros des Geldes mit fast 41 Milliarden Euro an die Luftwaffe gehen, die sich davon unter anderem US-Tarnkappen-Kampfjets vom Typ F-35 und Chinook-Transporthubschrauber gönnen wird. Vom Stapel laufen werden neue Korvetten und Fregatten für die Marine, auch sollen Nachfolger für den Schützenpanzer Marder und den Truppentransporter Fuchs angeschafft werden. Und wenn all diese Sachen erst einmal gekauft sind, müssen sie noch unterhalten und gewartet werden. Bei 100 Milliarden Euro wird es daher kaum bleiben.
Linke und AfD hatten die Abstimmung über die Finanzdusche verschieben wollen. Weil’s halt wirklich viel Geld ist, darüber sei doch zu reden. Der Sondertopf, sagte Finanzminister Lindner, »laufe parallel zur Schuldenbremse«. Es läuft also das Gasgeben parallel zur Vollbremsung. Ein Trick, den man sich für die nächste Steuererklärung unbedingt merken muss!
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Lesen Sie hier mehr: Olaf Scholz und die Ukraine – Der Bremser
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Dänemarks Signal an Europa und Putin: Putins Angriff auf die Ukraine bringt Dänemark näher an die EU: Seit gut 30 Jahren halten sich die Dänen raus aus der europäischen Verteidigungspolitik. Nun haben die Bürger für einen historischen Kurswechsel gestimmt .
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Einen Nato-Verzicht auf Osterweiterung hat es »zu keinem Zeitpunkt gegeben«: Hat der Westen im Zuge des deutschen Einheitsprozesses den Sowjets formal zugesagt, die Nato nicht nach Osten zu erweitern? Auf SPIEGEL-Anfrage positioniert sich die Bundesregierung.
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Der Aufmarsch, die Wende, die aktuellen Gefechte: Interaktive Karten zeigen die Dynamik des Kriegs in der Ukraine vom ersten Schuss bis zur Schlacht im Donbass. Und sie machen deutlich, wie Russland seine Ziele anpassen musste .
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Fünf Lehren aus dem Krieg: Putins Armee ist schwächer als gedacht – seine Macht aber gefestigt. Wie hängt das zusammen? Und auf welche Seite schlagen sich die russischsprachigen Ukrainer?
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Europas Enttäuschung über die zaudernden Deutschen: Das Zögern der Bundesregierung bei Waffenlieferungen an die Ukraine hat Deutschlands Ruf in Europa lädiert. Es ist fraglich, ob die nun versprochenen Flugabwehrraketen den Schaden beheben können .
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Bundestag beschließt Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro: Es war ein Kernversprechen im Wahlkampf der SPD, nun hat der Bundestag der Mindestlohnerhöhung zugestimmt. Vom Anstieg profitieren vor allem Frauen und Menschen in Ostdeutschland.
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Tesla plant offenbar massiven Stellenabbau: Erst drohte Elon Musk Beschäftigten im Homeoffice mit Rausschmiss, laut einem Bericht blickt er auch generell skeptisch auf die Wirtschaftslage – und will bei Tesla in großem Stil Personal einsparen.
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Impfzertifikate lassen sich jetzt in der Corona-Warn-App verlängern: Bisher laufen Zertifikate für Geimpfte oder Genesene in der Corona-Warn-App automatisch nach einem Jahr ab. Wer im Sommer verreist und ein gültiges Zertifikat braucht, sollte seine App deshalb aktualisieren.
Meine Lieblingsgeschichte heute…
… ist ein ausführliches Interview, das Gerhard Pfeil mit Oliver Bierhoff geführt hat. Als Laie habe ich längst den Überblick verloren, was dieser Bierhoff eigentlich genau macht. Irgendwas beim DFB, oder? Aber was unterscheidet einen Teammanager von einem Trainer? Neuerdings ist Bierhoff, lerne ich, »Geschäftsführer Nationalmannschaft und Akademie«.
Was genau macht man da? »Es geht darum, wichtige Themen anzustoßen, die sportliche Richtung im Verband vorzugeben«, so Bierhoff. Diese Richtung, ist das nicht immer irgendwie aufwärts, vorwärts, gegnerwärts?
Ex-Stürmer Bierhoff
Foto:
Marius Becker / dpa
Weiterhin sieht es seine »Aufgabe auch darin, Hansi den Rücken freizuhalten«. Dazu gehöre, »auch mal kritische Themen« oder eben Interviewfragen abzufangen, sozusagen im medialen Strafraum per Kopf zu klären. Auch verteidigt er den Markennamen »Die Mannschaft« für die Mannschaft. »Hansi« ist übrigens Hansi Flick, der Trainer, von dem Bierhoff berichtet, dass er bisweilen Spielern auflauert und sagt: »Hey, da ist irgendwas in deiner Stimme. Stimmt etwas nicht?«. Gruselig, aber auch verständnisvoll.
Verständnis hat Bierhoff wiederum für Spieler, die unter Umständen gegen die Verhältnisse in Katar, dem Austragungsort der kommenden WM, öffentlich Protest erheben könnten. Auf die Frage, ob es wieder »Human Rights«-T-Shirts geben werde, antwortet Bierhoff mit vollendeter Diplomatie: »Wir wollen dem Turnier eine Chance geben«.
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Lesen Sie hier das ganze Interview: Werden Sie Proteste von Spielern verhindern, Herr Bierhoff?
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Heard vs. Depp kann trotzdem ein Gewinn für die Gesellschaft sein: Vor der Weltöffentlichkeit stritten Johnny Depp und Amber Heard über ihre zerrüttete Ehe. Es ging unter anderem um Fäkalien im Bett und angebliches Urinieren in Hotellobbys. Aber auch um viel mehr .
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Wie Apple dieses kuriose Siliziummonster erschuf: Mit seinen eigenen Chips hat Apple die Konkurrenz abgehängt, doch über diese Sparte sprach der Konzern bislang ungern. Das ändert sich nun plötzlich – womöglich aus Kalkül .
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Bitte trocknen Sie sich mit dem Bademantel ab! Passagiere mit Vielfliegerkarten fühlen sich von Lufthansa nicht mehr allzu bevorzugt behandelt. Auch in der First Class erscheint manchen Kunden die Behandlung zweitklassig .
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Weiblich, sportlich, jung sucht … Veränderung: Frauentennis ist unattraktiver als die Spiele der Männer – behauptet die Chefin der French Open. Mitten in dieser Debatte zieht Coco Gauff ins Finale ein. Die 18-Jährige nutzt ihren Erfolg für politische Botschaften .
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Mit einer Bombenserie eröffnete die RAF den Krieg von »6 gegen 60 Millionen«: Gleich sechsmal ließen RAF-Terroristen im Mai 1972 Bomben explodieren. Was trieb die selbst ernannte Stadtguerilla dazu, vier Menschen umzubringen und mehr als 70 weitere zu verletzen?
Was heute weniger wichtig ist
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Sarah Jessica Parker, 57, und Kim Cattrall, 63, sind einander nicht so gewogen, wie es ihre Rollen in sechs Staffeln von »Sex and The City« nahelegen. Als Carrie Bradshaw und Samantha Jones mochten sie einander nämlich beinahe so sehr wie Stöckelschuhe vom Designer. Neu ist die Fehde der Schauspielerinnen zwar nicht, eher so ein »John Lennon vs. Paul McCartney«-Ding, Fans wissen Bescheid.
Neu ist nur, dass Parker in einem Interview nun unversöhnlich nachgelegt hat: »Ich denke, sie hätte netter sein können«. Denkt sie das wirklich? Ja: »Ich denke wirklich, sie hätte netter sein können. Ich weiß nicht, was ihr Problem ist«. So habe Cattrall, nachdem ihr Bruder verstorben war, alle Kondolenzen der Kollegin brüsk zurückgewiesen und bei Instagram geschrieben: »Ich brauche deine Liebe und deine Hilfe in dieser traurigen Zeit nicht!«.
Parker kritisierte auch die Medien in dem Interview. Es sei ständig die Rede von einem »Catfight« gewesen, also einem »Zickenkrieg«. Das sei falsch, es habe keinen Kampf gegeben. Nur »eine Person, die geredet hat«, oder jetzt eben zwei Personen. »Catfight« ist übrigens misogyn. Wenn zwei Männer sich streiten, spricht schließlich auch niemand von einem »Bullfight«.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Hier muss aber in Kauf genommen werden, dass nach einer Wäsche vom Audruck SPORTFREUNDE STILLER nur noch SPORTFREUNDE übrig ist (bei 90 Grad vielleicht nur noch FREUNDE).«
Cartoon des Tages: Verzeih mir!
Foto: Illustration: Chappatte
Und am Wochenende?
Alle jene Musikfreundinnen und Musikfreunde, die leider keine Karte für Rock am Ring bekommen haben, müssen die Flinte nicht ins Korn werfen, können ihre Tränen trocknen und auf die Wunder moderner Telekommunikationstechnik vertrauen. Das Großspektakel Spaß wird nämlich irgendwo übertragen, und dann kann man sich das im Netz anschauen. Mit allen Vor- und Nachteilen, die das Alleinegucken zu Hause so mit sich bringt.
Darüber (weit) hinaus möchte ich Ihnen eine Künstlerin ans Herz legen, die vermutlich eher keine Kandidatin für Rock am Ring ist – dachte ich, wie täppische Boomer eben so denken. Mein Kollege Andreas Borcholte belehrt mich in seiner »Abgehört«-Kolumne eines Besseren über Danielle Balbuena alias 070 Shake: »Alles an dieser erstaunlichen, in kosmischer Klangkälte warm verkuschelten Musik drängt auf die große Festival-Bühne oder könnte als Soundtrack zu stilistisch und inhaltlich bahnbrechenden Neo-Seifenopern wie ›Euphoria‹ funktionieren«.
Freundinnen und Freunde des fortgeschrittenen Sprechgesangs kennen 070 Shake bereits als Gast von Kanye West (sie singt auf »Ye«), 2020 veröffentlichte sie ihr Debütalbum – und heute erscheint »You Can’t Kill Me«. Angenommen, es gäbe noch Plattenläden, und die wären überdies irre gut sortiert – 070 Shake müsste unter »Emo Rap« einsortiert werden. Was wesentlich besser klingt, als es klingt, wenn man »Emo Rap« einfach so hinschreibt.
Tatsächlich hat sie eine Stimme, hat sie Texte und eine Attitüde, wie man sie im Genre nur selten findet. Dazu kommt ein Gewerk an Beats und Percussion, das wirklich Freude macht. Mit allen Vorteilen und ohne die Nachteile, die Alleinehören zu Hause so mit sich bringt. Oder, wie Andreas schreibt: »Hyperpop, beeindruckend«.
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Arno Frank
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