Vom Sondergipfel der Europäischen Union geht eine fatale Botschaft aus: Erstmals seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine fehlt der EU die Kraft zu einer gemeinsamen Position.
Formal haben die Staats- und Regierungschefs ein Embargo gegen russisches Öl vereinbart. In Wirklichkeit hat sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán durchgesetzt. Sein Land darf weiterhin russisches Öl über die Druschba-Pipeline importieren. Wie lange, das bestimmt er selbst.
Die anderen Mitgliedstaaten stimmten zu, weil eine Scheineinigung besser ist als keine Einigung. Alles andere hätte nur dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Hände gespielt.
Dabei ist offen, ob der Verzicht auf russisches Öl den erhofften Effekt haben wird. Am Ende könnten die Kosten für die EU höher sein als für Russland.
Das Signal der Uneinigkeit kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Das russische Militär gewinnt im Krieg gegen die Ukraine langsam aber sicher die Oberhand. Eigentlich müsste Europa eine Botschaft der Stärke senden.
Es ist leicht, Orbán für die Situation verantwortlich zu machen. Er hat die EU erpresst und lässt jede Form europäischer Solidarität vermissen.
Ein sehr grundsätzliches Problem ist auf dem Gipfel deutlich geworden: das Fehlen von Führung auf allen Ebenen der EU.
Es beginnt mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Bis dato hat sie in der Sanktionsfrage umsichtig und erfolgreich agiert. Ihre Vorschläge waren gut vorbereitet. Sie waren ambitioniert genug, um wirksam zu sein, aber nicht so ehrgeizig, dass sie die Mitgliedstaaten überforderten.
Beim gestrigen Gipfel gelang ihr das nicht. »Diesmal geht es um Energie. Das ist ernst«, sagte Orbán vor dem Treffen. Von der Leyen versäumte es, dem Rechnung zu tragen. Sie hat ihren Sanktionsvorschlag nicht sorgfältig genug ausgearbeitet und ihn ohne ausreichende Rücksprache mit den Mitgliedstaaten vorgelegt. Nicht nur Orbán beklagte sich darüber.
Noch schwerer wiegt, dass es auch unter den Staats- und Regierungschefs keinen Mann und keine Frau gibt, die die Union in dieser schwierigen Phase zusammenhalten könnten. Dabei wäre das dringend nötig. Nicht nur in Energiefragen driftet die EU auseinander.
Die Osteuropäer setzen – mit Ausnahme Orbáns – auf eine russische Niederlage. Viele westliche Staaten, darunter Deutschland, Frankreich und Italien, formulieren deutlich zurückhaltender. Es ist schwierig, aus diesen Positionen einen gemeinsamen Politikansatz zu entwickeln.
Traditionell ist es das Selbstverständnis der Bundesregierung, widerstreitende Interessen in der EU zusammenzuführen. Doch bislang ist Olaf Scholz in die Rolle, die ihm Angela Merkel hinterlassen hat, nicht hineingewachsen.
Der Bundeskanzler befindet sich seit Beginn des Krieges in der Defensive. Statt die Bedenken der osteuropäischen Partner zu zerstreuen, nährt er sie.
Obwohl Putin erkennbar keine Absichten hat, einen für die Ukraine akzeptablen Frieden zu schließen, telefoniert Scholz ebenso wie sein französischer Kollege Emmanuel Macron regelmäßig mit dem russischen Präsidenten. Das befördert in Staaten wie Polen den Verdacht, er sei auch zu einer Lösung über die Köpfe der Ukraine hinweg bereit.
Auf einen Besuch von Scholz in Kiew, der ein starkes Zeichen der Solidarität wäre, warten die Ukrainer bislang ebenso vergeblich wie auf die versprochenen schweren Waffen aus Deutschland. Scholz ist in der EU permanent in Abwehrhaltung. Aus dieser Position kann man nicht führen.
Gleichzeitig nimmt die Bereitschaft der europäischen Bürger, die Kosten des Krieges zu akzeptieren, ab. In der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl haben über die Hälfte der Wähler für europafeindliche und moskaufreundliche Parteien gestimmt. Auch deshalb kann Macron allein die EU nicht führen.
Die italienische Regierung gerät wegen ihres Kurses gegen Moskau ebenfalls unter Druck. Ob die Stimmung in Deutschland stabil bleibt, wenn Energiepreise und Lebenshaltungskosten weiter steigen, ist offen.
Es ist eine entscheidende Phase für die EU, die Ukraine und für ganz Europa. Um den Kampf gegen den russischen Imperialismus zu gewinnen, müssen die europäischen Staaten zusammenstehen.
Man kann nur hoffen, dass sie diesen EU-Gipfel als Weckruf verstehen.