Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute beschäftigen wir uns mit dem halbherzigen Ölembargo der EU gegen Russland, mit dem streitlustigen Wirtschaftsrat der CDU und einer globalen Bedeutung von Taten wie dem Tankstellenmord in Idar-Oberstein.
Ölembargo – nicht ganz
Im Schlimmsten gibt es immer auch Hoffnung, im Krieg auch gute Entwicklungen, so zynisch das klingen mag. Im Fall des russischen Angriffskrieges war das Zusammenhalten des Westens ein solch guter Moment, die plötzliche Einigkeit innerhalb der Europäischen Union.
EU-Ratspräsident Charles Michele: Deal mit Zugeständnissen
Foto: Nicolas Maeterlinck / dpa
Die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge wurde zur gemeinschaftlichen Aufgabe, über die Frage, wie Wladimir Putin zu bestrafen sei, waren sich alle einig. Selbst Deutschland erklärte sich bereit, die Pipeline Nord Stream 2 zu begraben, für den Kanzler ein riesiger Schritt.
Mit der klaren Einmütigkeit ist es vorbei, das ist die bittere Zwischenbilanz des außerordentlichen EU-Gipfels in Brüssel.
Offiziell haben sich die Mitgliedstaaten zwar gegen Mitternacht auf ein Ölembargo und andere Sanktionen geeinigt, doch der Deal ist mit Zugeständnissen verbunden. So werden zunächst nur zwei Drittel der russischen Ölimporte mit einem Einfuhrverbot belegt.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: Risse in der Einigkeit
Foto: Geert Vanden Wijngaert / AP
Auf Drängen Ungarns sollen vorerst wohl nur russische Öllieferungen über den Seeweg unterbunden werden. Lieferungen per Pipeline bleiben zunächst weiter möglich. Weitere Details sollen in den nächsten Tagen verhandelt werden.
Geschlossenheit gegen den Aggressor sieht anders aus.
Heute drohen die Beratungen auf dem EU-Gipfel »ähnlich erfolglos zu werden«, was die Einigkeit anbelangt, fürchtet mein Kollege Ralf Neukirch aus Brüssel. Die Staats- und Regierungschefs wollen unter anderem darüber beraten, wie sie der hohen Energiepreise Herr werden können. »Eine Entscheidung ist wegen höchst unterschiedlicher Vorstellungen nicht zu erwarten«, so Neukirch. Das klingt wieder weniger nach Hoffnung.
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Vorsicht, Geisterfahrer!
Der Wirtschaftsrat der CDU ist eine interessante Truppe. Klingt wie eine Unterabteilung der Partei, ist aber ein rechtlich unabhängiger Verein, der vor allem die Lobbyinteressen seiner 12.000 Mitglieder vertritt. Unternehmerinnen und Unternehmer, die eines eint: die Abneigung gegen allzu große staatliche Einmischung.
Oder, wie der Verein Lobbycontrol in einer Studie einmal schrieb: »Mächtiges Lobbyforum und einflussreicher Klimaschutz-Bremser.«
Einmal im Jahr lädt der Wirtschaftsrat zum Wirtschaftstag, mit Key Note Sessions, Power-Talk Sessions, Innovationstalks und Panels – Diskussionsrunden also, die nur anders heißen.
Redner 1: CDU-Chef Friedrich Merz
Foto: Rene Traut / IMAGO
Diesmal verspricht die Debatte anregend zu werden. Nicht nur Politikerinnen und Politiker der CDU haben sich als Redner angemeldet, sondern auch Mitglieder der Regierungsparteien, Finanzminister Christian Lindner (FDP) etwa, Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) oder Vizekanzler Robert Habeck (Grüne).
Dass letzteren nicht unbedingt die Herzen der versammelten Unternehmerschaft entgegenfliegen werden, ahnt man, wenn man sich ein paar der vorab veröffentlichten Statements ansieht.
Kai Hankeln, CEO der Asklepios Kliniken, zum Beispiel echauffiert sich über den »Geisterfahrerkurs« der Bundesregierung und ihre »German Angst« in der Coronapolitik. Er ruft die Deutschen dazu auf, aus ihrer »Naivität« aufzuwachen und »die Realität anzuerkennen«.
Ich bin gespannt, ob Habecks oft beschriebenes Redetalent auch in diesem Kreis verfängt. Ich zweifle.
Redner 2: Wirtschaftsminister Robert Habeck
Foto: IMAGO/Christian Spicker
Unter den 54 »Top Referenten«, mit denen sich die Veranstaltung rühmt, sind übrigens acht Frauen. Quote: unter 15 Prozent.
Ob das wohl gemeint ist, wenn der CEO von »Realität anerkennen« spricht? Es wäre eine traurige Wahrheit über den Wirtschaftsrat der CDU.
Globalisierung des Bösen
In Bad Kreuznach wird heute der Prozess gegen einen 50-Jährigen fortgesetzt, der den 20-jährigen Mitarbeiter einer Tankstelle in Idar-Oberstein erschossen hat, weil der ihn aufgefordert hatte, wie vorgeschrieben eine Maske zu tragen.
Ich habe nochmals gelesen, was meine Kollegin Julia Jüttner über diesen Fall geschrieben hat.
Demnach war dem mutmaßlichen Mord eine jahrelange Radikalisierung vorausgegangen. Der Schwager des Täters, Trump-Fan und Waffennarr, stachelte seinen deutschen Verwandten offenbar kontinuierlich an. Der wiederum mokierte sich über Angela Merkels Flüchtlingspolitik, die Debatte zum Klimawandel und die deutsche Presse – bevor ihn dann die deutsche Coronapolitik zur Tat trieb.
Tatort Tankstelle (Idar-Oberstein)
Foto: Thomas Frey / dpa
In fast jedem politisch motivierten Attentat der jüngeren Vergangenheit sind virtuelle Vernetzungen zu Gleichgesinnten zu finden. Oder zu Menschen, die der Täter für Gleichgesinnte hielt.
Der Attentäter von Texas, der 19 Grundschulkinder und zwei Lehrer erschoss, chattete zuvor mit einem Mädchen aus Frankfurt über sein Vorhaben. Der Mann, der 2019 ein Blutbad in der Synagoge in Halle anrichten wollte, übertrug seine Tat live für seine Fans. Der Attentäter im neuseeländischen Christchurch, der 2019 bei einem Anschlag auf zwei Moscheen 51 Menschen tötete, verbreitete sein »Manifest« virtuell auf der ganzen Welt, wo er Fans seiner brutalen Tat fand.
Radikalisierung findet globalisiert statt, das ist die schlichte Erkenntnis dieser vielen Taten. Deshalb müssen auch Aufklärung und Prävention weltweit vernetzt stattfinden.
Klingt wie eine Binsenweisheit. Aber wäre das Bewusstsein größer, auf vermeintliche oder echte Tatankündigen im Netz zu reagieren und rechtzeitig die Behörden zu warnen, könnten womöglich Leben gerettet werden.
Der Abschied des Tages…
Abschied mit 600 Gästen: Volker Bouffier und Ehefrau Ursula
Foto: Arne Dedert / dpa
…ist heute Hessen gewidmet. Dort tritt Volker Bouffier ab, nach knapp 50 Jahren in der Politik, nach zwölf Jahren als Ministerpräsident in Wiesbaden. Seine Abschiedsfeier fand gestern statt.
Bouffiers Ansehen und seine politische Verortung wechselten mehrfach. So galt er als Innenminister als »Schwarzer Sheriff« und praktizierte unter anderem eine harte Abschiebepraxis. Als die Politik versuchte, die Pannen bei den Ermittlungen zur Mordserie des NSU aufzuklären, wies Bouffiers Ministerium Polizisten an, V-Leute nicht zu vernehmen, obwohl ihr V-Mann-Führer beim Verfassungsschutz eine höchst verdächtige Rolle spielte.
Als Bouffier Ministerpräsident wurde, zog die Altersmilde ins Kabinett ein. Bouffier galt plötzlich als gelassen und fortschrittlich. 2013 etablierte er die erste schwarz-grüne Koalition in einem Flächenland.
Am Ende dann wieder Tiefpunkte: 2019 das Attentat auf den CDU-Politiker Walter Lübcke, einen Freund. 2020 der rassistische Anschlag von Hanau. Bouffier überstand eine Krebserkrankung, die ihn deutlich gezeichnet hat. 2020 starb sein Finanzminister durch Suizid, was Bouffier schwer traf.
Aufhören wollte er dennoch nie – bis heute.
In der Plenarsitzung wird Bouffier offiziell zurücktreten. Sein Nachfolger soll Boris Rhein werden, der bisherige Parlamentspräsident.
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Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Dienstag!
Ihr Martin Knobbe