Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute widmen wir uns dem Ampelstreit um das »soziale Klimageld«, blicken auf vergessene Kriege und auf eine schwierige Verhandlung des Bundesgerichtshofes über die so genannte »Judensau«.
Heil gibt den Söder
Es ist keine Neuigkeit, dass die FDP manchen in der Ampelkoalition tierisch auf die Nerven geht. Mit ihrem frühen Ruf nach dem Ende der Coronamaßnahmen, mit ihrem Beharren, die Schuldenbremse 2023 wieder einzuführen, trotz der vielen Investitionen, die wegen Corona, Krieg und Klimawandel nötig wären.
Nach außen hin gaben sich die Regierungspartner bislang meist einig und geschlossen, doch in die inszenierte Harmonie mischen sich jetzt Quietschtöne.
Vor allem die SPD scheint ihre Rolle als Mediator und Wahrer des Koalitionsfriedens satt zu haben. Haben doch die jüngsten Wahlergebnisse gezeigt, dass es sich kaum auszahlt, wenn Olaf Scholz im Hintergrund den vermittelnden Ampeldiplomaten gibt. Die SPD will offenbar rücksichtsloser werden.
Vorstoß ohne Absprache: Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil
Foto: Kay Nietfeld / dpa
Hubertus Heil gab daher am Wochenende den Markus Söder und übte sich im Vorpreschen. Er schlug, offenbar ohne Abstimmung mit den Ampelpartnern, ein »soziales Klimageld« vor. Damit sollen vor allem Gering- und Mittelverdiener entlastet werden.
Der Finanzminister reagierte kühl und eher wie einst in der Opposition: Die SPD habe die »Umverteilungspolitik nicht verlernt«, merkte Christian Lindner an. Höhere Schulden und Steuererhöhungen seien mit ihm nicht zu machen.
Die Herren, wann treffen wir uns zum Duell?
Doch die Fronten verlaufen nicht nur zwischen der FDP und den anderen. Die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine kommt, wenn überhaupt, nur in Zeitlupe in Gang, als Schuldiger wird der Kanzler ausgemacht.
Der wiederum machte sich auf dem Katholikentag sehr grundsätzliche Gedanken. »Darf Gewalt mit Gewalt bekämpft werden? Schafft man Frieden nur ohne Waffen?«, fragte Olaf Scholz in einem Tweet. Gute Fragen an sich, aber vielleicht nicht die richtigen für den Augenblick.
Sie dürften nicht nur die Koalitionspartner »schwerst irritiert« haben, wie die Liberale Marie-Agnes Strack-Zimmermann schrieb – sondern vielleicht auch den einen oder anderen Ukrainer, der sich gerade gegen die russischen Invasoren verteidigt und um sein Leben kämpft.
Und die Grünen? Auch sie sahen sich kurzzeitig auf verlorenem Posten, als gestern Abend mal wieder über das Sondervermögen für die Verteidigung verhandelt wurde. Annalena Baerbock kämpfte dafür, die 100 Milliarden nicht nur für schweres Gerät einzusetzen, sondern auch für Bereiche wie die Cyberabwehr. SPD und FDP wollten lieber auf die Truppe fokussiert bleiben, die Union ohnehin.
Am Ende aber, gegen 23 Uhr, gab es eine Einigung: Das Sondervermögen, es wird kommen. Immerhin.
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Kriege, die keiner kennt
Es ist schon ein gigantischer Prozess der kollektiven Selbstreflektion, der da im Gange ist. Unsere Russlandpolitik der letzten Jahre? Offensichtlich fehlgeleitet. Unsere Chinapolitik der letzten Jahre? Offensichtlich blauäugig und rein nach wirtschaftlichem Nutzen orientiert. Die Xinjiang Police Files, die den brutalen Umgang der chinesischen Regierung mit den Uiguren dokumentieren, haben es uns klar und hart vor Augen geführt: Die Hoffnung, Wandel würde durch Handel geschehen, hat sich als fataler Irrglaube entpuppt.
Die Ampel spricht in ihrem Koalitionsvertrag, der vor dem Krieg entstanden ist, von einer wertebasierten Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Gut gebrüllt, Löwe! Was das genau ist, muss Rot-Grün-Gelb jetzt in sehr realer Politik aufzeigen. Die Zeitenwende, sie ist vermutlich größer, als wir es je wahrhaben wollten.
Äthiopisches Flüchtlingscamp in Guyah
Foto: MICHELE SPATARI / AFP
Deshalb ist es gut, dass es ständige Mahner gibt. Sie erinnern zum Beispiel daran, dass in der Welt Menschenrechte irgendwo immer verletzt werden und der Kampf gegen Unterdrückung, Ver- und Missachtung nie zu Ende ist. Amnesty International ist so ein Mahner.
Heute vergibt die deutsche Sektion der NGO zum elften Mal ihren Menschenrechtspreis, die Verleihung findet heute Abend im Berliner Maxim Gorki Theater statt. Der Äthiopische Menschenrechtsrat erhält die Auszeichnung, eine Institution, die sich vor mehr als 30 Jahren gegründet hat.
Yirga Hail, geschäftsführender Direktor des Äthiopischen Menschenrechtsrats
Foto: Bettina Ruehl / epd
Im letzten Jahr kam dem Rat eine besondere Bedeutung zu: In der äthiopischen Region Tigray hat sich ein schwelender Konflikt zum Krieg entwickelt. Nach Uno-Angaben wurden seit Beginn der Kämpfe Tausende Menschen getötet, mehr als zwei Millionen wurden in die Flucht getrieben. Der Menschenrechtsrat versucht – trotz lebensgefährlicher Bedingungen – Verletzungen von Menschenrechten in diesem Krieg zu dokumentieren.
Vermutlich wissen die wenigsten hier in Europa, dass es diesen Krieg überhaupt gibt. Daher sind ständige Mahner so wichtig.
Geschichtspflege oder Antisemitismus?
Als ich mich als Student einmal um ein Stipendium bewarb, stellte mir die Auswahlkommission eine Frage: Soll man Gebäude, die in der NS-Zeit entstanden sind, bewahren, als Zeugnis ihrer Zeit? Oder soll man sie abreißen, weil sie Wallfahrtsorte für Neonazis werden könnten? Und wäre alles andere nicht ein Affront gegen die Opfer des Nationalsozialismus und ihre Hinterbliebenen?
Umstrittene Schmähskulptur in Wittenbergh
Foto: Hendrik Schmidt/ dpa
Mein Beispiel ist nur begrenzt vergleichbar mit einem Fall, für den heute der Bundesgerichtshof eine mündliche Verhandlung angesetzt hat: Es geht um eine als »Judensau« bezeichnete Sandsteinplastik aus dem 13. Jahrhundert, die an der Wittenberger Stadtkirche, der Predigtkirche Martin Luthers hängt. Sie zeigt einen Rabbiner, der den Schwanz eines Schweins anhebt und ihm in den Anus blickt. Zwei weitere Juden saugen an den Zitzen des Tieres. Es ist eine Schmähdarstellung übelster Art.
Ein jüdischer Kläger will durchsetzen, dass die Plastik entfernt wird. Sein Anwalt hebt »die besondere Schwere der Beleidigung« durch die »Judensau« hervor. Vor dem Oberlandesgericht Naumburg war der Kläger gescheitert. Die Darstellung verletze nicht die Ehre der Juden, da das Relief in ein Gedenkensemble »mit anderem Sinn« eingebettet sei, urteilten die Richter. Die Kirchgemeinde distanziere sich auf einer Informationstafel klar vom verhöhnenden Charakter der Plastik und der Missachtung von Juden. Ob sich der BGH dieser Auffassung anschließt?
Vor der Auswahlkommission hatte ich mich damals dafür ausgesprochen, ausgewählte NS-Bauten zu erhalten, wenn es zugleich eine historische Dokumentation und Einordnung dazu vor Ort gibt. Ich weiß bis heute nicht, ob diese Antwort damals im Sinne meiner Prüfer war oder nicht. Das Stipendium habe ich bekommen.
Gewinner des Tages…
… ist Schwarz-Grün. So reibungslos wie derzeit in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben die beiden Parteien, die auf den ersten Blick mehr trennen als verbinden mag, wohl noch nie zusammengefunden. Gewisse Dating-Apps würden im Fanfarenton verkünden: »It’s a match.«
Künftige Partner? NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Landesvorsitzende Mona Neubaur (Grüne)
Foto: IMAGO/Piero Nigro / aal.photo / IMAGO/aal.photo
In Düsseldorf beginnen am Dienstag die Koalitionsverhandlungen, in Kiel die ersten Sondierungsgespräche. Man verhandele, wird allerorten versichert, mit bester Laune und Zuversicht. Sollte die neue Liebe andauern und als Baby sogar noch eine solide Politik dabei herauskommen, dann sollte die Ampel in Berlin alarmiert sein. Entsteht da ein Zukunftsmodell für den Bund?
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag und in die Woche!
Ihr Martin Knobbe