In Kriegs- und Krisenzeiten gewinnen selbst kleinere diplomatische Formate eine Bedeutung, die sie bislang nicht hatten. Zumindest auf der symbolischen Ebene.
So ergeht es dem sogenannten Ostseerat, der an diesem Mittwoch das erste Mal seit neun Jahren wieder formell mit den Außenministern der zehn Mitgliedstaaten und der EU im norwegischen Kristiansand zusammentritt.
In der Vergangenheit, sagt Baerbock nach der Tagung mit ihren Kolleginnen und Kollegen, habe es ja Fragen gegeben, ob man dieses Instrument der »Soft Power« noch benötige. Doch man brauche es in diesem »entscheidenden Moment mehr denn je«, sagt die Grünenpolitikerin.
Außenministerinnen und -minister des Ostseerats
Foto: IMAGO/Thomas Trutschel / IMAGO/photothek
Es ist ein Instrument der Ära nach dem Ende des Kalten Krieges. 1992 wurde der Ostseerat vom damaligen deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und seinem dänischen Amtskollegen begründet. Eine Epoche, in der man auf Kooperation, Einbindung und Austausch setzte. Doch die Zeiten sind nun seit dem 24. Februar 2022 andere. Russlands Mitgliedschaft wurde nach dem Überfall auf die Ukraine suspendiert, kürzlich trat Moskau dann aus dem Ostseerat aus.
Belarus, mit Russland eng verbunden, hat zwar noch einen Beobachterstatus, aber auch der wurde nach dem Überfall Russlands suspendiert. Man habe, sagt die norwegische Außenministerin Anniken Scharning Huitfeldt, den Austritt Russlands »zur Kenntnis« genommen.
Für Baerbock sind dies intensive Tage. Am Vortag hat sie ihre neue französische Amtskollegin in Berlin begrüßt, auch mit dem polnischen Außenminister gesprochen.
Die jüngsten Enthüllungen über »Umerziehungslager« in China, über die der SPIEGEL und andere Medien am Vortag berichteten, spielt offiziell in Kristiansand keine Rolle. Baerbock hatte am Dienstag bereits in Berlin ihren chinesischen Amtskollegen Wang Yi in einer seit Längerem geplanten Videoschalte auch auf das Thema der verfolgten Uiguren und die jüngsten Medienberichte angesprochen.
»Jedem, der diese Bilder sieht, dem läuft es eiskalt den Rücken herunter, diese Bilder sind verstörend und erschreckend«, sagte sie später in Berlin auf einer Pressekonferenz mit ihrem polnischen Amtskollegen.
Schweden und Finnland für die Nato »ein echter Gewinn«
Hier in Kristiansand stehen vor allem der Krieg in der Ukraine und die Folgen im Mittelpunkt. Der Ostsee-Raum wandelt sich, von der Kooperation früherer Jahre mit Moskau ist man nun weit entfernt. Es ist ein Meer der möglichen Konfrontation geworden.
Schweden und Finnland haben jüngst ihre Anträge für eine Nato-Mitgliedschaft in Brüssel eingebracht, zwei bislang traditionell neutrale Staaten wollen nun Teil des westlichen Verteidigungsbündnisses werden. Im Ostseeraum, »wo wir über Jahrzehnte auf einen Dialog mit Russland und regionale Zusammenarbeit gesetzt haben, gibt es nun eine sicherheitspolitische Zäsur«, sagt Baerbock.
Dass Schweden und Finnland den Schritt in die Nato unternehmen, sei so nie geplant gewesen. »Aber Russland hat ihnen keine andere Wahl gelassen. Für unser Bündnis sind sie ein echter Gewinn«, sagt Baerbock.
In Kristiansand unterstreichen die deutsche und die norwegische Außenministerin, wie wichtig der Beitritt der beiden Länder ist. Auf eine zeitliche Prognose, wann die Türkei ihre Bedenken gegenüber den Nato-Aspiranten aufgibt, möchten sie sich nicht einlassen. Man wisse es nicht, kommentiert Huitfeldt die derzeit laufenden Gespräche Finnlands und Schwedens in Ankara. Es sei, fügt sie aber hinzu, »sehr wichtig für Norwegen«, dass beide Länder zur Nato gehörten.
Ähnlich äußert sich Baerbock. In diplomatischen Kreisen sind in Kristiansand vorsichtige, optimistische Töne zu hören, was eine mögliche Änderung der türkischen Haltung angeht.
In Norwegen verfolgen Baerbock auf einer Pressekonferenz auch Fragen nach der zögerlichen Rolle Deutschlands bei Waffenlieferungen an die Ukraine. Sie weist darauf hin, dass Deutschland demnächst Gepard-Flugabwehrpanzer liefern werde, und erwähnt auch die laufende Ausbildung ukrainischer Soldaten an der Panzerhaubitze 2000 in Deutschland.
Dass nicht nur Deutschland einen Bruch seiner bisherigen Politik durch den Krieg in der Ukraine erlebt, macht die norwegische Außenministerin klar. Auch ihr Land habe mit der Tradition gebrochen. Seit 1959 galt der Grundsatz, dass Norwegen den Export von Verteidigungsgütern in Kriegsgebiete oder Bürgerkriegsländer nicht zulassen sollte.
In Kristiansand ist hinter den Kulissen zu hören, dass die Norweger – die mit Russland eine rund 190 Kilometer lange Grenze teilen – über ihre geplanten Waffenlieferungen an die Ukraine keine so große und zum Teil hitzige Debatte im Land führen wie die Deutschen. Aus eigenen Beständen will Norwegen 20 ältere amerikanische Panzerhaubitzen vom Typ M-109 an Kiew liefern, zudem Seezielflugkörper.
Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis gibt sich in Kristiansand betont diplomatisch. Auch in seinem Land gab und gibt es starke Kritik an der Rolle Deutschlands. Er habe seine Landsleute gebeten, ein »bisschen Geduld« zu haben, was die Debatte in Deutschland angehe.
Ab Juli übernimmt Deutschland den Vorsitz des Ostseerats. Baerbock hatte es vor ihrer Abreise nach Norwegen mit einem bildhaften Vergleich formuliert: Man übernehme Verantwortung »für einen Raum, der für viele Deutsche vor allem ein beliebtes Urlaubsziel ist«. Deutschland will nicht nur den Vorsitz nutzen, um die Zusammenarbeit bei der Gewinnung von Offshore-Windenergie voranzutreiben. Auch der Jugendaustausch steht auf dem deutschen Programm, ebenso die Beseitigung der großen Munitionsaltlasten in der Ostsee, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammen.
Bei dem Besuch in Kristiansand geht es auch um Norwegens Rolle als Gas- und Erdölproduzent, der vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine noch wichtiger wird. Für Deutschland ist das Land der zweitgrößte Lieferant von Gas.
Norwegen, so heißt unter deutschen Diplomaten in Kristiansand, dürfte verstärkt eine Rolle als Ausgleichslieferant für das russische Erdgas in Deutschland spielen. Bislang hat Norwegen vor allem im Winter Gas geliefert, nun könnte es auch im Sommer dazu beitragen, deutsche Erdgasspeicher aufzufüllen. »Wir werden so viel ausgleichen, wie es möglich ist«, sagt Norwegens Außenministerin.