Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um Wahlkampfauftritte in den Ländern, um tapfere Männer im Donbass, um zu junge Geschäftsleute und die Zukunft der Bundesinnenministerin.
Es tut sich was in der Fläche
Diese LAGE beginnt mit einem Geständnis: Wir im SPIEGEL-Hauptstadtbüro blicken traditionell mit einer Spur Überheblichkeit (aber wirklich nur einer kleinen) auf die politischen Geschehnisse in den Bundesländern. Die Musik spielt schließlich hier bei uns in der Bundeshauptstadt! Aber in diesen Tagen, gerade an diesem Wochenende, können wir nicht leugnen: In den Ländern ist was los!
Vor der Wahl in Schleswig-Holstein an diesem Sonntag wird der FDP-Vorsitzende (zugleich Bundesfinanzminister) Christian Lindner heute noch einige Last-Minute-Wahlkampftermine in Kiel und Lübeck absolvieren.
In Nordrhein-Westfalen werben die grüne Außenministerin Annalena Baerbock (Köln), der CDU-Chef Friedrich Merz (Wuppertal) und FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai (Mönchengladbach) für ihre Parteien zur Wahl am 15. Mai. Für SPD-Kandidat Thomas Kutschaty findet sich in der Terminvorschau kein Promi-Auftritt – muss uns das Sorgen machen?
Wahlplakate in Oberhausen
Foto: IMAGO/Revierfoto
Dafür wird die SPD Hessen heute auf einem Landesparteitag ihr Führungsteam neu wählen, auch Landeschefin Nancy Faeser (zugleich Bundesinnenministerin) tritt wieder an. Dazu später mehr.
Und in Bayern arbeitet sich der Huber Martin*, der neue CSU-Generalsekretär, in seine neue Aufgabe ein. »Er brennt, er will das«, sagte der Söder Markus bei Hubers Vorstellung. Zu lichterloh brennt der Neue hoffentlich nicht, schon sein Vorgänger ist ja nicht an mangelndem Temperament gescheitert. Stephan Mayer ** war als Generalsekretär zurückgetreten, nachdem er angeblich dem »Bunte«-Reporter Manfred Otzelberger in einer »Schreiorgie« (O-Ton Otzelberger) am Telefon mit »Vernichtung« drohte, weil der Journalist über ein angeblich geheim gehaltenes Kind von Mayer berichtet hatte.
Martin Huber und Markus Söder (CSU)
Foto: Peter Kneffel / dpa
Otzelberger ist für die Autorin dieser Zeilen ein alter Bekannter aus gemeinsam durchlittenen AfD-Parteitagen, und ich hätte Mayer warnen können. Der »Bunte«-Kollege ist ein sehr freundlicher Mensch, aber wenn er politisch die Witterung aufnimmt, heißt es Obacht geben. Seine Recherchen trieben einen baden-württembergischen Landesminister zum Rücktritt, und seine samtpfotigen Fragen entlockten schon manchem Politiker unvorsichtige Worte, etwa dem Partner von Ex-AfD-Chefin Frauke Petry, der liebestrunken schwärmte: »Sie hat so etwas dämonenhaft Schönes.«
Für manche Kolleginnen und Kollegen in unserem Hauptstadtbüro weckte die Stephan-Mayer-Episode Erinnerungen daran, wie sie selbst mal von Spitzenpolitikerinnen oder -politikern angeschrien wurden. Aus therapeutischen Gründen haben wir den Betroffenen ermöglicht, diese Erfahrungen aufzuschreiben. Sie werden im Laufe des Wochenendes auf spiegel.de veröffentlicht. Wenn ich richtig gezählt habe, kommen ein ehemaliger Kanzler, eine spätere Kanzlerin, ein Vizekanzler und zwei Parteivorsitzende vor.
* In meiner kurzen Zeit in Bayern (ein Jahr Journalistenschule) wurde mir bedeutet, dass es dort noch weithin akzeptiert sei, Nachname und Vorname in dieser Form zu vertauschen.
** Man sollte einen Witz nicht zu Tode reiten
Zu zweit reist es sich leichter
Selbstverständlich sind solche kleinen Scharmützel von uns Berliner Medienleuten mit Politikern lächerlich, verglichen etwa mit den Gefahren im ukrainischen Kriegsgebiet. Für die neue Ausgabe des SPIEGEL ist mein Kollege Alexander Sarovic mit dem Fotografen Emre Caylak in den Donbass gereist und hat die Männer porträtiert, »die sich Putins Walze entgegenstellen«. Männer wie Hauptmann Oleksandr Staryna, in dessen altem Lada Alexander Sarovic durch den Ort Marjinka fuhr, auf den täglich russisches Artilleriefeuer einprasselt: »Feindliche Drohnen schweben, bisweilen gut sichtbar, über dem Ort. Es gibt kaum eine Straße ohne Krater, Raketenteile ragen aus Erdlöchern heraus. In manchen Ruinen glimmen Feuer. Nur die wenigsten freiwilligen Helfer trauen sich noch in das Städtchen.«
Für meinen Kollegen Christian Esch, bis vor kurzem Moskau-Korrespondent, markiert der Kriegsbeginn eine ganz persönliche Zeitenwende, nämlich das vorläufige Ende von 14 Jahren in Russland. Christian hat gemeinsam mit einem Autorenteam unsere Titelgeschichte des neuen Magazins geschrieben, über die überraschende Schwäche von Wladimir Putins Armee und seiner Geheimdienste, und welche Gefahren aus ebendieser Schwäche erwachsen.
Emmanuel Macron, Olaf Scholz (im März)
Foto: Kay Nietfeld / dpa
Wie viel Härte darf, soll, muss die Bundesregierung gegenüber dem nuklear ausgerüsteten Aggressor Putin zeigen? Bundeskanzler Olaf Scholz betont, jeder Schritt sei mit den Bündnispartnern eng abgestimmt. Heute wird sein engster Partner neu ins Amt eingeführt: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Seine rechtsextreme Herausforderin Marine Le Pen hat Macron vorerst bezwungen, doch nun erwartet den jungen, neuen, alten Präsidenten gleich die nächste Machtprobe: In Aubervilliers im Norden von Paris formiert sich heute das politische linke Lager zu einer neuen Allianz für die Parlamentswahlen im Juni. Vier Parteien haben ein Bündnis geschlossen, um Macron die Mehrheit abzujagen: Linke, Sozialisten, Grüne und Kommunisten.
Am Montagabend wird Macron in Berlin von Olaf Scholz erwartet. Ob der Präsident und der Kanzler sich dann über die Idee einer gemeinsamen Reise nach Kiew austauschen? Beide waren seit der Invasion nicht in der Ukraine. Bei Scholz lag es an den diplomatischen Verstimmungen um die Ausladung des Bundespräsidenten. Wäre ein gemeinsamer Trip nicht ein starkes Signal der Solidarität der zwei wichtigsten EU-Staaten? Allerdings dürfte der Bundeskanzler seiner Außenministerin Annalena Baerbock den Vortritt lassen, deren Reise Scholz jüngst angekündigt hat.
Sage keiner, hier würde nicht gestritten
In der deutschen Debatte über Waffenlieferungen haben uns viele Leserinnen und Leser in den vergangenen Tagen vorgeworfen, zu einseitig zu berichten, die Zurückhaltung des Bundeskanzlers nicht hinreichend zu würdigen und die Gefahr eines Atomkrieges nicht ernst genug zu nehmen. Persönlich stehe ich auf dem Standpunkt, dass diese Gefahr unabhängig davon besteht, welche Waffen unser Land der Ukraine liefert. Putin hat mit der Invasion nicht nur das Völkerrecht mit Füßen getreten, sondern seinem Land auf irrationale, geradezu verrückte Weise geschadet. Wird er wirklich den Vorwand brauchen, dass Deutschland auch Panzerhaubitzen liefert, um sein nukleares Arsenal zu zünden?
Foto:
Maurizio Gambarini / dpa
Aber man kann unserer Redaktion jedenfalls nicht vorwerfen, dass die andere Meinung bei uns nicht zu Wort käme. Im neuen SPIEGEL schreibt der Publizist Harald Welzer ein Lob des Zauderns . Die Debatte sei geprägt von »hektischer Stimmungspolitik«, und »das Vokabular wird beständig aufgerüstet«. Da sei die Zurückhaltung von Scholz allemal klüger als »forsches Eskalieren«.
Auch Sahra Wagenknecht konnte bei uns im Interview ausführlich ihre Argumente gegen Waffenexporte ausbreiten, die auffällig ähnlich wie die Kreml-Propaganda klingen.
Vor allem empfehle ich das Streitgespräch, das Susanne Beyer und Markus Feldenkirchen moderiert haben zwischen der »Emma«-Herausgeberin Alice Schwarzer und der FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Da fliegen so richtig die Fetzen.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Das geschah in der Nacht: US-Präsident Joe Biden hat erneute Waffenlieferungen angekündigt. Die Ukraine befürchtet verstärkte russische Luftangriffe. Und: Die Besatzer planen russische Pässe für Einwohner im Gebiet Cherson. Der Überblick.
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Putin-Fans attackieren deutsche Behördenseiten: Russische Hacktivisten haben nach SPIEGEL-Informationen die Websites deutscher Behörden, Ministerien und Flughäfen attackiert und zum Teil vorübergehend lahmgelegt. Wer steckt hinter Killnet?
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Italien beschlagnahmt Megajacht »Scheherazade«: Aktivisten gehen davon aus, dass das Schiff Wladimir Putin gehört: In der Toskana ist eine Jacht festgesetzt worden. Wolodymyr Selenskyj hatte Italien schon im März zu dem Schritt aufgefordert.
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»Es gibt Momente, da hadere auch ich«: Hält die Grüne Baerbock ihren Kurs im Ukrainekrieg für vereinbar mit feministischer Außenpolitik? Wie wägt sie die Lieferung schwerer Waffen gegen die Gefahr eines Atomkriegs ab? Und wie empfindet sie die Zusammenarbeit mit Kanzler Scholz?
»Krise kann auch geil sein«
Man dachte eigentlich, alles über fragwürdige Maskendeals während der Pandemie gelesen zu haben. Aber TV-Moderator Jan Böhmermann hat diese Woche gezeigt, dass man nicht Politiker sein muss, um sich an der Seuche zu bereichern. In seiner ZDF-Sendung enthüllte Böhmermann, dass Fynn Kliemann, Musiker und YouTuber, offenbar in hässliche Coronamasken-Deals verwickelt ist.
Kliemann soll Masken als Ware aus Europa beworben haben, die tatsächlich aus Vietnam und Bangladesch stammten, wo sie teils unter ausbeuterischen Bedingungen hergestellt worden waren. 100.000 mangelhafte Kliemann-Masken wurden offenbar mit großer Geste an Geflüchtete »gespendet«. Und anders als behauptet verdiente Kliemann an den Geschäften auch bestens.
Jan Böhmermann, Fynn Kliemann
Foto: Vennenbernd; Dittrich / dpa
Der YouTuber hat meinen Kollegen Jonas Leppin und Anton Rainer ein Interview gegeben, um sich zu verteidigen – eine Mission Impossible.
Hier eine Kostprobe:
Kliemann: Ich habe nie dementiert, dass Masken von Global Tactics in Bangladesch produziert werden. Ich wurde nur nie danach gefragt.
SPIEGEL: Jetzt verteidigen Sie sich wie ein Politiker.
Kliemann: Das ist keine Ausrede, nur die Herleitung.
Uff.
»Kliemann wusste genau, wie schlecht Masken-Produktion in Bangladesch ankommt, deshalb hat er es bewusst überall verschwiegen, um es sich nicht mit seiner Community zu verscherzen«, sagte mir Jonas Leppin. Doch genau das passiere jetzt: »Die Wut ist überall groß, er verliert minütlich tausende Follower, weil alle dachten, er ist einer von den Guten. Aber auch ihm ging es um Ruhm und Geld. Am Ende ist er auch nur ein Geschäftsmann, nur mit einem hippen YouTube-Kanal.«
Fynn Kliemann empfehle ich einen Bericht meiner Kollegin Katrin Langhans über Menschen mit schweren Vorerkrankungen. Für sie bedeutet das Ende der Maskenpflicht keinen Freedom Day, sondern den Prison Day: Diese Patienten, darunter auch Kinder und Jugendliche, werden in die dauerhafte Isolation gezwungen. Für diese Menschen wären Kliemanns Masken lebensgefährlich.
Gewinnerin des Tages…
Nancy Faeser
Foto: Michael Kappeler / dpa
…ist Nancy Faeser. Nicht, weil die Bundesinnenministerin aller Voraussicht nach heute wieder zur Chefin der SPD Hessen gewählt wird, sondern weil ihre eine ganz andere Perspektive offensteht: die Spitzenkandidatur zur hessischen Landtagswahl im Herbst 2023. Seit Monaten wird spekuliert, ob Faeser antritt. Seit einigen Monaten ist sie Bundesinnenministerin, die erste Frau in diesem Amt. Auch wenn ihr Wirken bisher ohne Glanzlichter blieb, könnte dieser prestigereiche, mächtige Posten der SPD vielleicht den Rückenwind geben, um die CDU, die seit 1999 regiert, wieder aus der Staatskanzlei zu verdrängen.
Es ist eine gewaltige Chance, zugleich aber ein gewaltiges Risiko, was Faeser auch ein wenig zur Verliererin macht. Aus einem Bundesministerium heraus Wahlkampf zu machen, könnte das Amt beschädigen. Und kandidiert Faeser, müsste sie glaubwürdig versichern, auch im Fall der Niederlage nach Wiesbaden zurückzukehren, auf die ihr wohlbekannte Oppositionsbank. Dann wäre der Ministerposten dahin. Die Sozialdemokratin steht vor einer schwierigen Abwägung.
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Deutsche RWE-Beschäftigte verdienen im Schnitt 116.000 Euro: Wer bei einem großen Unternehmen arbeitet, hat oft ein besseres Gehalt als Durchschnittsverdienende. Einem Zeitungsbericht zufolge zahlen einige Konzerne besonders hohe Vergütungen.
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Abholzung des Amazonas in Brasilien erreicht neuen Höchstwert: In Brasilien wurden innerhalb eines Monats mehr als 1000 Quadratkilometer Amazonas-Regenwald abgeholzt. Umweltschützer sprechen von »schrecklichen, beängstigenden, empörenden Zahlen«.
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
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Die Männer, die sich Putins Walze entgegenstellen: In der »Schlacht um den Donbass« stehen den Russen einige der fähigsten und erfahrensten Soldaten der ukrainischen Streitkräfte gegenüber. Unterwegs mit dem Hauptmann Oleksandr Staryna, der sagt: »An der Front fühlen wir uns geborgen.«
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Er inszeniert sich als kleiner Bruder von Olaf Scholz – reicht das?: In NRW wird gewählt, für die Sozialdemokraten will der Rechtsanwalt Thomas Kutschaty das Land zurückgewinnen. Dafür kopiert er den Kanzler. Und setzt auf seine Fähigkeiten, Gegner kühl aus dem Weg zu räumen.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Melanie Amann