Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um die Haltung der Deutschen zur Lieferung schwerer Waffen, um die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Erdoğans allzu große Bereitschaft, sich mit Saudi-Arabien gut zu stellen.
Politik eher einig, Deutsche eher uneinig
Der Bundestag hat zugestimmt, schwere Waffen in die Ukraine zu liefern. Der ukrainische Präsidentschaftsberater Mychajlo Podoljak bezeichnete den Entschluss als geschichtswürdig. »Deutschland hat Wort gehalten«, schrieb er auf Twitter, es gebe eine »beeindruckende Einheit« über den Antrag zur Waffenlieferung im Bundestag. »Diese Abstimmung wird in die Geschichte als einer der letzten Sargnägel für Putins Lobbyismus in Europa eingehen.« Die deutsche Regierung zeige nun wieder Führungskraft.
Friedrich Merz, CDU-Vorsitzender, forderte gestern im Bundestag Lieferungen schwerer Waffen in die Ukraine
Foto: Fabian Sommer / dpa
Jetzt, da diese wichtige und sehr wahrscheinlich nötige Entscheidung gefallen ist, sollte es an der Zeit sein, die Diskussion über das Vorgehen Deutschlands in der Ukraine wieder zu öffnen und vielstimmiger werden zu lassen.
Durch die unklare Haltung des Kanzlers hat sich die öffentliche Debatte zuletzt verengt, es ging plötzlich fast nur noch um Waffen. Kurz bevor sich Olaf Scholz dazu durchrang, die schweren Waffen liefern zu wollen, klangen politische Kommentare beinahe so, als gehöre Scholz zu den wenigen Deutschen, die hier noch zögerten. Das eindeutige Votum des Bundestags verstärkt diesen Eindruck nun noch. Dieser Eindruck aber ist eine Täuschung. Der Wandel von einer eher pazifistischen zu einer eher militaristischen Gesellschaft vollzieht sich nicht so schnell.
Eine repräsentative Umfrage von Infratest dimap unter 1314 Wahlberechtigten für den ARD-Deutschlandtrend, die gestern Abend veröffentlicht wurde, hat ergeben, dass es in der Öffentlichkeit keine Einigkeit über den Ukraine-Kurs gibt und die Lieferung schwerer Waffen durchaus umstritten ist. 45 Prozent sprechen sich dafür, 45 Prozent dagegen aus. Klare Fürsprecher finden sich allein in den Reihen von FDP (70:25 Prozent) und Grünen (67:25 Prozent). Von den Unions-Anhängern äußert sich zwar gut die Hälfte zustimmend (53 Prozent), aber 42 Prozent melden Widerspruch an. Tief gespalten zeigen sich die Anhänger der SPD (45:46 Prozent). Deutlich ablehnend äußern sich die Wähler der AfD (12:84 Prozent).
Gerade wer Lieferungen schwerer Waffen begrüßt, sollte auch eine lebendige Debatte darüber befürworten und sich offen zeigen für Widerspruch. Politische Beschlüsse werden von der Bevölkerung eher mitgetragen, wenn diejenigen, die Bedenken dagegen haben, genauso angehört werden wie Befürworter. Diese Debatten zu organisieren, ist Aufgabe der Medien. Aufgabe von Politikerinnen und Politikern ist es, nicht so zu tun, als wüssten sie es sowieso besser – diese Rolle wurde zuletzt vom Grünen-Politiker Anton Hofreiter und der FDP-Politikern Marie-Agnes Strack-Zimmermann arg strapaziert –, sondern die Bevölkerung teilnehmen zu lassen an gedanklichen Prozessen, die zu ihrer Haltung führen.
Es spricht sehr viel dafür, dass die Lieferung schwerer Waffen jetzt richtig ist. Wer sich hier aber zu sicher ist, argumentiert nicht vertrauenswürdig. Wladimir Putin hat sich offensichtlich eingesponnen in Wahnvorstellungen und sein neofaschistisches Weltbild. Niemand kann wissen, worauf er wie reagiert. In Zeiten des Krieges gibt es Sicherheit nur graduell.
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CDU-Mann mit SPD-Fangemeinde
Am 8. Mai wird der Landtag in Schleswig-Holstein gewählt, nach einer von der ARD in Auftrag gegebenen Vorwahlbefragung liegt die CDU klar vorn. Sie käme demnach auf 38 Prozent, die SPD auf 19 Prozent, die Grünen erreichten 16 Prozent, die FDP käme wie zuletzt auf 9 Prozent. Die AfD, die 2017 mit 5,9 Prozent in den Landtag eingezogen ist, erreichte 5 Prozent, wie auch der Südschleswigsche Wählerverband, der allerdings von der Fünf-Prozent-Hürde befreit ist.
Daniel Günther (CDU), Ministerpräsident von Schleswig-Holstein
Foto: Kay Nietfeld/ DPA
Falls es in etwa so kommen sollte, müsste sich der dann wiedergewählte Ministerpräsident Daniel Günther bei seiner Dankesrede vor allem vor der politischen Konkurrenz verneigen: SPD-Anhänger favorisieren eher den CDU-Amtsinhaber als den eigenen Spitzenkandidaten Thomas Losse-Müller.
Die neuen Freunde des Herrn Erdoğan
Erstmals seit dem Mord am saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Herbst 2018 in der Türkei ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach Saudi-Arabien gereist.
Saudi-Arabischer Kronprinz Mohammed bin Salman
Foto: Saudi Royal Palace/ AFP
US-Geheimdienste halten Kronprinz Mohammed bin Salman, den faktischen Herrscher des Landes, für den Drahtzieher des Mordes an Khashoggi. Und auch Erdoğan brachte den Kronprinzen nach der Tat indirekt damit in Verbindung und sagte, er werde nicht zulassen, dass die Tat verschleiert werde. 26 Angeklagte, darunter ein Ex-Berater des Kronprinzen und der ehemalige Vize-Geheimdienstchef, wurden in Abwesenheit in der Türkei angeklagt. Nun aber wurde der Mordprozess plötzlich eingestellt, beziehungsweise »abgegeben«, wie es hieß – ausgerechnet an Saudi-Arabien.
Das dortige Königshaus hat alle Vorwürfe immer zurückgewiesen. Erdoğans neue Freundlichkeit gegenüber König Salman und Mohammed bin Salman wird weniger damit zu tun haben, dass er ihnen plötzlich glaubt. Sondern eher damit, dass er sich aus eigenen Nöten befreien möchte. Die türkische Währung Lira verliert an Wert, die Inflation steigt, die Bevölkerung ist unzufrieden, Erdoğan sucht Wege aus der Wirtschaftskrise und bemüht sich deswegen um bessere Beziehungen zum Königreich.
Die dortigen Freunde zurückzugewinnen aber bedeutet, woanders Freunde zu verlieren. Denn kaum etwas ist Erdoğan im Westen in den vergangenen Jahren so hoch angerechnet worden, wie seine Entschlossenheit, den Khashoggi-Mord aufzuklären.
Gewinner des Tages…
Unternehmer Elon Musk
Foto: Brendan Smialowski / AFP
… ist das Asperger Syndrom. Die Entwicklungsstörung ist eine Variante des Autismus. Merkmale sind unter anderem ein eingeschränktes Einfühlungsvermögen und mangelhafte soziale Kompetenz. Es kommt eher selten vor, dass Menschen sich ihrer Störungen rühmen, der US-Unternehmer Elon Musk – einer der reichsten Menschen der Welt, der in dieser Woche Schlagzeilen machte, weil er Twitter übernommen hat – verkündete aber im vergangenen Jahr, er lebe mit dem Syndrom. Im Fall von Musk, der in keiner Weise zur Bescheidenheit neigt, lässt sich dieses Eingeständnis aber auch als Selbstlob verstehen: Menschen mit Asperger gelten als oft überdurchschnittlich intelligent.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Susanne Beyer