Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um die Reise des Kanzlers ins ferne Japan, um Russlands Warnungen vor einem dritten Weltkrieg, das große Ost-Missverständnis der SPD – und Friedrich Merz.
Konnichiwa, Kanzler!
Über Nacht ist Olaf Scholz nach Japan geflogen, 13 Stunden mit dem Regierungsjet, mein Kollege Veit Medick ist an Bord und wird von dieser Tour berichten. Scholz, der gerade den Vorsitz der G7 hat, der führenden demokratischen Wirtschaftsmächte, wird mit dem japanischen Ministerpräsidenten Fumio Kishida vornehmlich über den russischen Überfall auf die Ukraine zu sprechen haben.
Im Einklang mit dem Westen hat Japan scharfe Sanktionen gegen Russland verhängt, das Land ist dabei ähnlich abhängig von russischem Gas wie Deutschland. Allerdings bezieht Tokio LNG, also Flüssiggas, von Wladimir Putin.
Kanzler Scholz
Foto: Michael Kappeler / dpa
Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in der Geschichte: Japan und Deutschland waren einst revisionistische Mächte, wollten ihre Grenzen verschieben, die demokratische Welt ließ sie zu lange gewähren, schließlich kam es zum Weltenbrand. Nach dem Krieg wurden beide in internationale Systeme integriert, konnten darin florieren, gaben ihren Revisionismus auf.
Bei Russland sind die Integrationsversuche seit den Neunzigerjahren gescheitert, vielleicht waren sie auch nicht ausreichend genug. Klar ist aber, dass Putin nicht bereit ist, Grenzen zu akzeptieren, anders als Deutschland oder Japan nach 1945.
Gescheiterte Abschreckung
Putins Krieg in Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014, der Krieg im Donbass, die Kriegsverbrechen in Syrien – all das blieb ohne tief greifende Konsequenzen für Putin. Musste der Kreml-Herrscher den Eindruck gewinnen, er könne mit einem Überfall auf die Ukraine davonkommen?
Wenn es so war, hat er sich schwer verkalkuliert.
Hätte ihm der Westen die eigene Entschlossenheit früher und transparenter signalisieren sollen, statt sich auf das russische Ablenkungsnarrativ von der vermeintlich bedrohlichen Nato-Osterweiterung einzulassen? Man kann auch Autokraten leider nicht in den Kopf gucken.
Kriegstreiber Putin
Foto: ALEXEY DANICHEV / AFP
Aber wie sehr Putin nun wegen seiner ukrainischen Fehlkalkulation und eines damit verbundenen möglichen Gesichtsverlusts unter Druck steht, zeigen die jüngsten Äußerungen seines Außenministers Sergej Lawrow, der vorm dritten Weltkriegs warnt: »Die Gefahr ist ernst, sie ist real, sie darf nicht unterschätzt werden.«
Wenn eine Atommacht vom Weltkrieg spricht, sollte man das ernst nehmen. Egal, wie irre deren Anführer sind. Oder gerade, weil sie es sind.
Aber wir sollten uns den Blick auch nicht vernebeln lassen. Kommunikation ist in diesem Konflikt eine wichtige, scharfe Waffe. Putins Clique versucht Angst im Westen zu schüren, Entschlossenheit zu unterminieren, Europa zu spalten. Alt-Bundespräsident Joachim Gauck etwa sieht in Lawrows Äußerungen einen Einschüchterungsversuch.
Man kann die Sache mit der Weltkriegsgefahr übrigens auch genau andersherum argumentieren. In Deutschland hat das zuletzt Grünen Ex-Fraktionschef Anton Hofreiter in seinem Plädoyer für die Lieferung schwerer Waffen getan, nennen wir es also hier das Hofreiter-Theorem: Wird Putin nicht in der Ukraine gestoppt, könnte er weitere Länder überfallen und so einen Weltkrieg auslösen. Siehe weiter oben, Stichwort gescheiterte Abschreckung.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Das geschah in der Nacht: Bei Angriffen in der Ostukraine starb unter anderem ein Teenager. Kiew feiert den Widerstand in den besetzten Gebieten. Und: Russland wegen Helikopter-Deal der USA erzürnt. Der Überblick.
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Rückendeckung für die Front – wie die deutsche Panzerhaubitze 2000 der Ukraine helfen könnte: Etliche Länder liefern Haubitzen in die Ukraine. Die schweren Waffen erfüllen im Krieg eine wichtige Aufgabe. Gerade Deutschlands Panzerhaubitze 2000 dürfte dem Land einen großen Dienst erweisen.
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Putin droht Unterstützern der Ukraine mit »blitzschnellen« Schlägen: Kremlchef Putin behauptet, die Sanktionen des Westens seien wirkungslos. Wer sich von außen in den Krieg gegen die Ukraine einmische und Russland bedrohe, werde die Antwort »rasch« erhalten.
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Nach Lieferstopps in EU-Länder – das kommt jetzt auf Deutschland zu: Moskau erhöht mit dem Gaslieferstopp nach Polen den Druck, damit Abnehmer in Rubel bezahlen. Europa ringt um eine Antwort. Sorgt ausgerechnet das Geschacher ums Kleingedruckte bei uns für eine Energiekrise?
Was würde Willy sagen?
Willy Brandt scheint mir ein in nicht unbedeutenden Teilen der Sozialdemokratie missverstandener Kanzler zu sein. Da sind jene, die in den vergangenen 20 Jahren den Eindruck erwecken wollten, als sei ihre Nähe zu Wladimir Putin die Fortsetzung von Brandts Ostpolitik.
Mit dem Brandt-Label suchten sie ihre Politik zu adeln, unter deren Schirm Putins revisionistisches Begehr erblühen konnte.
Brandt dealte mit einer Sowjetunion, die auf Bestätigung der europäischen Grenzen aus war, während seine Enkel mit einem Russland Geschäfte trieben, das auf Expansion aus war und ist, auf die Verschiebung von Grenzen, die Missachtung des Prinzips der territorialen Integrität.
Damit haben sowohl die Bundesregierungen unter Schröder als auch unter Angela Merkel de facto eine Anti-Brandt-Politik gemacht.
Ex-Kanzler Brandt, Ministerpräsidentin Schwesig
Foto:
Stefan Sauer / dpa
Und dann gibt es noch jene Sozialdemokraten, die bei Brandt Schutz suchen, wenn sie wegen ihrer Russland-Politik in der Kritik stehen. Nach dem Motto: Der Willy stand ja auch im Feuer wegen seiner Ostpolitik. Tatsächlich jährte sich gerade gestern der gescheiterte Misstrauensantrag der Unionsfraktion gegen den Kanzler Brandt zum 50. Mal.
In dieser Woche hat Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig den Vogel abgeschossen. Schwesig steht wegen ihrer verfehlten Russland-Politik und einer dubiosen Klimastiftung in der Kritik. Die arbeitete im Verborgenen daran, die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 trotz US-Sanktionen fertigzustellen.
Nach Informationen des NDR soll sie nun auf einer Fraktionssitzung ihre Lage mit der Brandts verglichen haben: Der sei für seine Ostpolitik massiv kritisiert worden und habe das durchgestanden, auch ihr werde das gelingen. Diese Chuzpe muss man als sozialdemokratische Urenkelin erst mal haben.
Traditionell übrigens, das sei zur Ehrenrettung der SPD hier angeführt, steht die deutsche Sozialdemokratie der russischen Autokratie als erklärte Gegnerin gegenüber – ob zaristisch, kommunistisch oder putinistisch geprägt.
In der Weimarer Republik war keine Partei so nach Westen orientiert wie die SPD, keine Partei kämpfte so entschieden für die Westbindung. Der berüchtigte Vertrag von Rapallo aus dem Jahr 1922, den Deutsche und Sowjets hinter dem Rücken des Westens schlossen, wurde von einem Kanzler des Zentrums vorangetrieben, der die SPD überrumpelte. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt der SPD-Chef Kurt Schumacher als Kommunistenfresser (wenn er sich auch gleichzeitig gegen die Westbindung stemmte). Es folgten Brandts Ostpolitik – und schließlich das große Missverständnis.
Verlierer des Tages …
… ist Oppositionschef Friedrich Merz. Mit einem Antrag zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine wollte die Unionsfraktion die Ampelkoalition spalten und Olaf Scholz heute im Bundestag als Kanzler ohne eigene Mehrheit vorführen.
Oppositionschef Merz
Foto: IMAGO/Mike Schmidt
Nun hat aber Scholz selbst in den vergangenen Tagen die Panzerwende vollzogen und die Ampelfraktionen hatten zuvor schon einen eigenen Antrag zu schweren Waffen formuliert. Merz und die Union zogen zurück und haben sich dem Antrag der Ampel bei leichten Änderungen angeschlossen. Beratung und Abstimmung heute ab 9 Uhr im Bundestag.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Sebastian Fischer