Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Panzer – Bringt die Reise deutscher Parlamentarier in die Ukraine mehr als symbolische Unterstützung?
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Party – Warum muss Englands Premier Boris Johnsohn Strafe zahlen?
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Glaubenskrise – Werden Deutschlands Kirchen immer leerer?
1. Zeichen der Zögerlichkeit
Der Kanzler zögert noch – dafür sind die Bundestagsabgeordneten Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Michael Roth (SPD) und Toni Hofreiter (Grüne) in die Ukraine aufgebrochen, um sich im Westen des Landes mit Abgeordneten der Kiewer Rada zu treffen. Alle drei Politiker hatten zuletzt mehr Tempo bei Waffenlieferungen gefordert. Ihre Reise soll nun als Zeichen der Solidarität gelten.
So ehrenwert ihr Besuch vor Ort auch sein mag, an symbolischer Unterstützung für die Ukraine mangelte es in den vergangenen Wochen in Deutschland eigentlich nicht. In meiner Münchner Nachbarschaft zum Beispiel hat jemand blaue und gelbe Regenschirme an die Äste eines freistehenden Baumes gehängt. Seit Ausbruch des Krieges ist außerdem kein Tag vergangen, an dem nicht irgendeine deutsche Politikerin oder ein Politiker den Ukrainern vollste Solidarität zugesichert hat.
Hofreiter, Strack-Zimmermann, Roth
Foto: Links: Xander Heinl / Getty Images //
Mitte: Thomas Trutschel / Getty Images // Rechts: Christophe Gateau / picture alliance / dpa
Nur, was bedeutet das konkret? In Hilfsgüterlieferungen, Waffen, Willkommenspaketen gerechnet? Und ist es genug – um Putins völkerrechtswidrigen Angriff zu stoppen?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat heute in einer Ansprache an das litauische Parlament Zweifel an der Entschlossenheit Europas geäußert, den Druck auf Russland wegen der Kriegsgräuel in seinem Land zu erhöhen. »Einige EU-Staaten können sich nicht festlegen, wann sie zumindest spürbar den Kauf russischer Energieträger einschränken«, beschwerte sich Staatschef Selenskyj. Er fragte: »Sind die Werte noch lebendig, die zur Grundlage Europas nach dem Zweiten Weltkrieg wurden? Oder haben die Werte schon ihre Rolle gespielt und können höchstens noch als Exponate in Museen für Touristen dienen?«
Man würde gerne eine Antwort von Olaf Scholz darauf hören. Es mag ja sein, dass seine Zögerlichkeit in Sachen Energieembargo gegen Russland oder sein Bremsen bei Waffenlieferungen an die Ukraine sinnvoll sind – zum Beispiel, um Deutschland und die Nato nicht aktiv in diesen Krieg mit hineinzuziehen. Nur wäre es dann schön, wenn Scholz sein Handeln nicht so zögerlich kommunizieren würde.
Während Scholz weiter schweigt, ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Mittag zu einem eintägigen Besuch in Polen eingetroffen. Eigentlich wollte Steinmeier im Anschluss nach Kiew weiterreisen. Selenskyj aber will den Bundespräsidenten nicht empfangen. Der Grund sind offenbar die engen Beziehungen Steinmeiers zu Russland in den vergangenen Jahren.
Bei seinem Besuch in Polen sagte der Bundespräsident zur Absage aus Kiew, dass er gern zusammen mit den Präsidenten Lettlands, Litauens und Estlands nach Kiew gereist wäre, »um ein starkes Zeichen der Solidarität Europas mit der Ukraine zu setzen. Ich hätte diese Gelegenheit gern wahrgenommen. Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass dies offensichtlich nicht gewünscht ist.«
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Lesen Sie hier mehr: Deutsche Ausschussvorsitzende auf dem Weg in die Ukraine
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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»Nehammer hat nichts erreicht«: Redlich, aber realitätsfremd und illusionär: Der Innsbrucker Russlandexperte Gerhard Mangott hält es für einen Fehler, dass der österreichische Kanzler Karl Nehammer zu Kremlchef Wladimir Putin gereist ist.
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Putin gibt sich siegesgewiss: Die Ukraine leistet seit Wochen heftigen Widerstand gegen die russischen Truppen. Kremlchef Putin sagte bei einem Auftritt an einem Weltraumbahnhof dennoch, dass die Ziele der »Spezialoperation« erreicht würden.
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Ukraine prüft Berichte über angeblichen Chemiewaffeneinsatz Russlands: In der Nacht gab es offenbar heftige Kämpfe in Mariupol. Nach Angaben einiger Verteidiger wurden dabei von russischer Seite unerlaubte Waffen verwendet. Der britische Geheimdienst hatte zuvor vor Phosphormunition gewarnt.
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Alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine im News-Update
2. Teure Party
Über Monate galt in Großbritannien ein strenger Corona-Lockdown, trotzdem gab es in dieser Zeit mehrere Partys in der Downing Street. Heute nun wurden Premier Johnson und sein Finanzminister Rishi Sunak mit Bußgeldern belegt. Das erklärte die britische Regierung in einem Statement. Die Labourpartei forderte daraufhin erneut Johnsons Rücktritt.
Johnson war Anfang des Jahres wegen mutmaßlicher Lockdownpartys in der Downing Street massiv unter Druck geraten. Britische Medien tauften die Affäre »Partygate«. Der Premier hat viele Kritiker in den eigenen Reihen und muss fürchten, dass in den kommenden Wochen ein Misstrauensvotum gegen ihn angestrengt wird.
Seit Monaten kämpft Noch-Regierungschef Johnson ums politische Überleben. Vor zwei Monaten berichtete Londons SPIEGEL-Korrespondent Jörg Schindler: »Aus seinem Umfeld heißt es, es müssten schon Panzer auffahren, um ihn aus Downing Street zu verjagen. Angesichts der Weltlage eine bemerkenswerte Metapher. Aber eine, die zeigt, wie Johnson und die Seinen sich in diesen Tagen fühlen. Eingebunkert.«
Schon damals tobte ein von Tag zu Tag unwürdiger werdendes Schauspiel. Jörg schrieb: »Während im Osten Europas Militär aufmarschierte, während daheim in Großbritannien die Lebenshaltungskosten explodieren und die dramatischen Brexitfolgen immer sichtbarer werden, während in Nordirland alte Konflikte wieder aufzubrechen drohen und die Regionalregierung kollabiert ist, verwendet Boris Johnson einen Großteil seiner Kraft und Zeit darauf zu retten, was aus seiner Sicht am wichtigsten ist – sich selbst.«
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Lesen Sie hier mehr: Johnson wird wegen seiner Fehler geliebt, Johnson wird wegen seiner Fehler gehasst
3. Neue Hochrechnung
Kirchen prägen Stadtbilder. Sie geben Orten ein hübsches Gesicht, stehen am Marktplatz in der Innenstadt, werden viel fotografiert. Nur voll werden sie nicht mehr.
Laut Hochrechnungen von Experten sind erstmals seit Jahrhunderten mehr als 50 Prozent der Menschen in Deutschland weder römisch-katholisch noch evangelisch. Die römisch-katholische und evangelische Kirche verlieren damit weiter an Einfluss. »Es ist eine historische Zäsur, da es im Ganzen gesehen, seit Jahrhunderten das erste Mal in Deutschland nicht mehr ›normal‹ ist, Kirchenmitglied zu sein«, sagt der Berliner Sozialwissenschaftler Carsten Frerk von der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid), die von der religionskritischen und humanistischen Giordano-Bruno-Stiftung ins Leben gerufen worden ist.
Über Jahrhunderte war es in Deutschland üblich, einer der großen Kirchen anzugehören. Im vergangenen Jahr waren noch 51 Prozent der deutschen Bevölkerung römisch-katholisch oder evangelisch. 1990 lag der Anteil bei 72 Prozent. Offiziell werden die neuesten Zahlen (Stand für Ende 2021) erst im Sommer von den Kirchen veröffentlicht. Die Abwärtsentwicklung sei schon seit Längerem zu beobachten, sagte Frerk. »Sie hat sich in den vergangenen sechs Jahren aber stärker beschleunigt als vorher angenommen.« Zuletzt gab es nach der Vorstellung eines Missbrauchsgutachtens im katholischen Erzbistum München und Freising eine Flut an Kirchenaustritten in Bayern.
Ich glaube, dass sich am menschlichen Bedürfnis nach Gemeinschaft, Sinn und universaler Gerechtigkeit wenig geändert hat in den letzten Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten. Der Glaube hat nur ordentlich Konkurrenz bekommen – sei es durch vegane Koch-Gurus, bodypositive Yoga-Lehrerinnen oder Einschlaf-Apps mit beruhigender Geräuschkulisse.
Auch ich war schon lange nicht mehr in einem Gottesdienst, was ich kommendes Wochenende aber ändern werde. Volle Kirchen – an Ostern wird es sie ausnahmsweise geben.
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Lesen Sie mehr: Kirchenmitglieder sind nur noch eine Minderheit in Deutschland
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Kartellamt rät Autofahrern von Autobahntankstellen ab: Osterzeit ist Reisezeit – doch wer mit dem Auto unterwegs ist, sollte laut Kartellamt lieber nicht an der Autobahn tanken. Dort seien meist noch mal rund 25 Cent mehr pro Liter fällig.
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Siebeneinhalb Jahre Haft wegen Mordplans gegen Regierungschef Sánchez: Ein rechtsradikaler Spanier wollte den linken Ministerpräsidenten Pedro Sánchez töten. Ein Gericht in Madrid verurteilte den 65-Jährigen nun zu einer langen Gefängnisstrafe.
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Mehrere Menschen in New Yorker U-Bahn verletzt: Mindestens 13 Menschen sollen in einer U-Bahn-Station in Brooklyn verletzt worden sein. Offenbar wurden auch Sprengsätze gefunden. Die Polizei ist mit einem Großaufgebot vor Ort.
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3G-Regel fällt ab Gründonnerstag in fast allen Bereichen: Kurz vor Ostern hat die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern weitere Lockerungen der Coronamaßnahmen beschlossen. Die strengen Hotspotregelungen gelten nun nur noch in Hamburg.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Mythos Mutter
Man kann nicht alles haben im Leben! Wie mich dieser Satz ärgert. Gestern, nach dem Rücktritt von Familienministerin Anne Spiegel, habe ich ihn so oder so ähnlich in Kommentaren gelesen, in Kollegengesprächen aufgeschnappt oder auf Twitter entdeckt. Natürlich steckt etwas Wahres darin, denn jeder trifft auf seinem Lebensweg Entscheidungen, die womöglich in Sackgassen führen. Heiraten, sich neu verlieben, Kinder kriegen, Karriere machen, sinnstiftend arbeiten, ein überdurchschnittliches Gehalt kassieren – das geht oft alles nicht gleichzeitig.
Was mich ärgert ist, dass dieser Satz im Besonderen auf die Biografien von Frauen zuzutreffen scheint. Sobald sie Kinder bekommen, sehen sich viele von ihnen in der Pflicht, eine gute Mutter sein zu müssen. Auch Väter »hadern mit der Elternkonstruktion«, schreibt meine Kollegin Elisa von Hof aus der SPIEGEL-Kulturredaktion nach der Lektüre der Bücher des Frühjahrs. »Aber im Gegensatz zu den Müttern gelingt es ihnen, sich aus der Verantwortung zu entlassen. Und irgendwie kommen sie damit durch.« Elisas Rezension von drei Romanen, die literatisch mit dem Klischee der guten Mutter aufräumen, habe ich sehr gerne gelesen.
Dass Mütter manchmal von dem Druck zerquetscht werden, der ihnen von allen Seiten und auch von sich selbst auferlegt wird, ist nicht neu. Für viele Frauen ist der Alltag in der Pandemie zwischen Homeoffice, Haushalt, Familienbetreuung und Homeschooling sogar noch schwieriger geworden. »Obwohl das Rollenbild so häufig kritisiert wurde, scheint es wirkmächtiger denn je«, schreibt Elisa.
Vielleicht werde in der Literatur gerade deshalb mit kaum einer anderen Figur so hart gebrochen wie mit der »guten Mutter«. Gleich mehrere Autorinnen, alles Frauen, demontieren in diesem Frühjahr diese Rollenkonstruktion – »radikaler als jede Debatte es könnte«, findet Elisa.
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Lesen Sie hier die ganze Rezension: Mama kann nicht mehr
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Wie sinnvoll ist Fracking in Deutschland? Deutschland soll unabhängiger werden von russischem Gas. Bayerns Ministerpräsident Söder schlägt vor, hiesiges Erdgas mit der Fracking-Methode zu fördern. Bislang ist die Technik bei uns größtenteils verboten – aus guten Gründen.
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»Deutschlands Sünde ist die Abhängigkeit von russischer Energie«: In der Eurokrise drängte Deutschland andere Länder zu harten Einschnitten, nun schreckt es vor einem Gasembargo gegen Russland zurück. Der frühere griechische Finanzminister Papakonstantinou hält das für falsch.
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»Ich muss mich immer fragen: Braucht das wirklich jemand?« Eierschneider, Schalaufhänger, Fallschirm zum Joggen: Bei Tchibo gibt es Nützliches – und Überflüssiges. René Kuntzag denkt sich die Produkte aus. Hier erzählt er, warum er dafür oft wieder zum Kind wird.
Was heute weniger wichtig ist
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Es dürfte eine der glamourösesten Promihochzeiten des Jahres gewesen sein: Brooklyn Beckham und Nicola Peltz haben im US-Bundesstaat Florida geheiratet. Beckham ist der Sohn des ehemaligen britischen Fußballstars David Beckham und des ehemaligen Spice Girls Victoria Beckham, US-Schauspielerin Peltz’ Vater ist der amerikanische Investor Nelson Peltz, dessen Vermögen das US-Magazin »Forbes« auf 1,6 Milliarden Dollar (1,47 Milliarden Euro) schätzt. Auf Instagram veröffentlichte das Paar ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem die beiden sich an den Händen halten. Beckham trägt darauf einen schwarzen Frack, Peltz ein weißes Kleid mit langem Schleier. Das Bild betiteln beide mit derselben Zeile: »Mr. & Mrs. Peltz Beckham«. Offenbar hat sich das Paar für einen gemeinsamen Doppelnamen entschieden.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Le Pen wolle den Ausbau der E-Mobilität verlangsamen – das Gegenteil dessen, was auch Klimaschutzsicht geboten ist.«
Cartoon des Tages: Deutsche Waffenlieferungen
Foto: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Lesen Sie. Zum Beispiel Gustave Flauberts »Madame Bovary«. Das Buch ist viel besser, als ich es aus dem Schulunterricht in Erinnerung hatte. Die Bücherliste aus Elisa von Hofs oben empfohlener Rezension lautet:
Mareike Fallwickl: »Die Wut, die bleibt«
Hila Blum: »Wie man seine Tochter liebt«
Milena Moser: »Mehr als ein Leben«
Andrea Roedig: »Man kann Müttern nicht trauen«
Falls Ihnen nicht nach Muttermythos-Literatur zumute ist: Wie wäre es mit »Blondie«, einem Roman über Hitlers Schäferhündin. Geschrieben hat ihn Michael Degen. Der 90-jährige Schauspieler, der in vielen Rosamunde-Pilcher-Filmen oder in der beliebten Krimireihe »Donna Leon« zu sehen war, starb am Samstag in Hamburg, wie der Rowohlt-Verlag heute in Berlin mitteilte.
Einen schönen Abend wünscht Ihnen
Anna Clauß
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