: Russland-Ukraine-Krieg, Butscha, Wladimir Putin, Corona-Lockerungen //
Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um Eigen-, Fremd- und Fehlwahrnehmungen: Wie Deutschland seine Rolle im Ukrainekrieg sowie in dessen Vorgeschichte sieht – und was die anderen empfinden. Und wie wir jetzt auf Corona blicken.
Wir und der Blick auf uns
Der russische Uberfall auf die Ukraine gilt auch dem Westen. Nach dem Westen und seinen Werten strebten ja die Ukrainerinnen und Ukrainer. Deshalb will der Kriegsherr im Kreml nun ihr Land und Leben vernichten. Er findet, sie haben kein Recht auf eigene Staatlichkeit, auf selbstbestimmtes Leben. Er hat das in den vergangenen Jahren theoretisch dargelegt, nun setzt er es in die Praxis um.
AdvertisementEs ist zu befurchten, dass das Massaker an Zivilisten im Kiewer Vorort Butscha nicht das erste und letzte dieses russischen Vernichtungsfeldzugs gewesen sein wird.
Ukrainischer Prasident Selenskyj am Montag in Butscha
Foto: President of Ukraine / dpa
Wenn nun der Uberfall auch dem Westen gilt, dann gilt er vor allem auch Deutschland, das ja hier, im Westen, eine massgebliche Macht ist. In jedem Fall okonomisch, in der Eigenwahrnehmung auch moralisch. Setzen wir diesem Angriff auf uns genug entgegen? Da klaffen Selbst- und Fremdbild auseinander.
Die eigene Wahrnehmung geht so: Wir haben eine aussen- und sicherheitspolitische Wende ohnegleichen hingelegt, die Ukraine in fur unsere Verhaltnisse unerhorter Weise mit Waffen versorgt und nie dagewesene Sanktionen gegen Putins Reich verhangt. In der Aussenperspektive dagegen mag Deutschland wie getrieben wirken, manche sehen uns gar als Bremsklotz. Der polnische Premier Mateusz Morawiecki etwa hat das zuletzt so intoniert.
Deutschland, das doch stets gern Klassenbester ist, zogert ja tatsachlich beim Energieembargo, liefert eher verdruckst Waffen und einige wenige mogen vielleicht doch noch auf eine Appeasement-Politik hoffen. Passt diese Zogerlichkeit zur existenziellen Schwere des Angriffs? Aus welcher Perspektive werden Historiker einmal auf unser (Nicht-)Handeln blicken?
Auf einem anderen Feld allerdings fallen Selbst- und Fremdwahrnehmung zusammen: beim Umgang mit den Fluchtlingen. Bevolkerung und Staat empfangen die Menschen aus der Ukraine mit offenen Armen. Meinen Kollegen Thore Schroder, der uber das Grauen in Butscha berichtet, bat der ortliche Priester Andrii Galevin, den Deutschen etwas auszurichten: >>Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie unsere Fluchtlinge aufnehmen.<<
Heute ladt Aussenministerin Annalena Baerbock in Berlin gemeinsam mit Frankreich und Rumanien zur Unterstutzerkonferenz fur Moldau. Die kleine Ex-Sowjetrepublik erlebt seit Kriegsbeginn den verhaltnismassig grossten Zustrom von Gefluchteten. Baerbock und Co. geht es um Hilfen fur die Fluchtlinge vor Ort in Moldau sowie um die Verteilung auf andere Lander. Die Grunen-Politikerin selbst war Mitte Marz vor Ort in Moldau an der ukrainischen Grenze.
Mehr Nachrichten und Hintergrunde zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Das geschah in der Nacht: Bei russischen Angriffen in Mykolajiw soll auch ein Waisenhaus getroffen worden sein. In der Region Luhansk wird eine Grossoffensive befurchtet. Und: Klitschko warnt vor der Ruckkehr in Wohnhauser.
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>>Wenn eine Nation taub, blind und stumm wird<<: Kriegsverbrechen im ukrainischen Butscha – und dennoch gibt es keinen offentlichen Aufschrei in Russland. Warum nicht?
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Der Druck wachst – das Gas fliesst weiter: Die Bundesregierung verurteilt die Graueltaten von Butscha scharf, ein sofortiges Energieembargo gegen Russland lehnt die Ampelkoalition aber weiterhin ab. Doch der Widerstand wachst auch in den eigenen Reihen.
Wir und Putin
Es ist die Stunde der Bekenntnisse deutscher Fehlwahrnehmungen. Vorneweg der Bundesprasident, der mal Chef des Kanzleramts war, zweimal Aussenminister und immer nah dran an Russland: >>Meine Einschatzung war, dass Wladimir Putin nicht den kompletten wirtschaftlichen, politischen und moralischen Ruin seines Landes fur seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen wurde<<, hat Frank-Walter Steinmeier nun erklart.
Steinmeier und Putin (im Oktober 2017 im Kreml)
Foto: Mikhail Metzel / imago/ITAR-TASS
Und weiter: >>Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt.<< Mit einem Russland unter Putin werde es >>keine Ruckkehr zum Status quo vor dem Krieg geben.<<
Das ist Steinmeiers Versuch eines Befreiungsschlags. Neben Ex-Kanzlerin Angela Merkel sowie ihrem Vorganger und Gaslobbyisten Gerhard Schroder war kein deutscher Spitzenpolitiker in den vergangenen Jahrzehnten so nah dran an Putin wie Steinmeier. Er hat Deutschland mit in diese wirtschaftliche Abhangigkeit gefuhrt.
Von Merkel ubrigens bislang kein Wort der Reue in der Sache, allein eine schmale Erklarung zur im Jahr 2008 verhinderten Nato-Mitgliedschaft der Ukraine (>>Bundeskanzlerin a.D. Dr. Angela Merkel steht zu ihren Entscheidungen<<).
Wir und Corona
In Sachen Corona ist jetzt wieder Wettbewerbsfoderalismus angesagt. In Schwerin erlautert Ministerprasidentin Manuela Schwesig heute Nachmittag, warum in Mecklenburg-Vorpommern weiterhin Masken getragen werden mussen. Obwohl ja ganz Deutschland de facto ein Coronahotspot ist, hat sich neben Mecklenburg-Vorpommern allein Hamburg zu einem solchen erklart.
Hier in Berlin dagegen steigt schon die Stimmung. In einem Supermarkt habe ich eine fur den hiesigen Menschenschlag in Vor-Corona-Zeiten vollig undenkbare Begrussung gesehen: Man freue sich, ab jetzt wieder das Lacheln der Kundinnen und Kunden zu sehen. Es stand da wirklich, das mit dem Lacheln, kein Witz.
Ministerprasidentin Schwesig
Foto by Bernd Wustneck/dpa
Ich habe Sie gestern an dieser Stelle gefragt, wie Sie die Lockerungen erleben. Herzlichen Dank fur Ihre Antworten.
Eine Leserin schreibt, sie sei jungst bei einem Besuch in Danemark uberwaltigt gewesen vom entspannten Umgang dort mit Corona, es sei ein >>herrlich befreites Gefuhl und eine gute Ubung<>Nach uber zwei Jahren Pandemie, Ausnahmezustanden, Spaltung und schlechter Stimmung brauchen wir nicht nur unsere Freiheit, sondern auch Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zuruck.<<
Die meisten sind allerdings unsicher. Warum nicht wenigstens die Maskenpflicht in Innenraumen behalten, bis die Inzidenzen deutlich gesunken sind? Einige sagen, sie wurden weiterhin Kontakte meiden, auf Urlaubsreisen verzichten. Die vermeintliche Freiheit, beschreiben es manche, fuhre bei ihnen zu neuen Einschrankungen: Wo nicht mehr der Impfstatus kontrolliert werde oder Masken getragen wurden, verzichteten sie auf einen Besuch.
Eine 30-Jahrige mit Blutkrebserkrankung schreibt: >>Fur mich bedeuten Lockerungen noch mehr Einschrankung, noch mehr Vorsicht.<>in die Isolation gedrangt und verschwinden vollig aus dem Bewusstsein<<.
Gewinnerin des Tages…
Botschafterin Gutmann
Foto: Jan Woitas / dpa
… ist Amy Gutmann. Die 72-Jahrige halt heute an der Freien Universitat Berlin endlich ihre erste offizielle Rede als neue US-Botschafterin in Deutschland. Sechs Monate dauerte ihr Bestatigungsverfahren im US-Senat, erst im Februar konnte die Kandidatin von US-Prasident Joe Biden ihre Arbeit in Berlin aufnehmen – als erste Frau auf diesem Posten.
Gutmann war zuvor nahezu 20 Jahre Prasidentin der University of Pennsylvania und hat deutsche Wurzeln: Ihr Vater Kurt Gutmann stammt aus dem frankischen Feuchtwangen, musste das Land unter den Nazis als judischer Fluchtling verlassen.
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Ich wunsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Sebastian Fischer