des Tages: Aufrustung und Krieg in der Ukraine, Gasembargo, Chancengleichheit von Migranten //
Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Der Krieg und das Weltgefuhl der Deutschen – Wie durchdacht ist der Wertewandel der letzten Wochen?
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Drohende Gasknappheit in Deutschland – Wie gut sind Industrie und Politik vorbereitet?
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Chancengleichheit in der Schule – Werden Kinder mit auslandisch klingenden Namen benachteiligt?
1. Viele Deutsche haben in den Kriegswochen ihre Ansichten uber Aufrustung und Heldentum geandert – und argumentieren dabei oft emotional statt mit Vernunft
Der Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine fuhrt, ist grausam, moralisch verwerflich und fur viele Menschen in Deutschland ein aufruttelndes Ereignis. Trotzdem fallt es mir schwer, mich daran zu gewohnen, dass in Talkshows nun des Ofteren pensionierte Generale auftreten und mitunter schneidig uber die Notwendigkeit der Anschaffung vieler teurer neuer Waffen sprechen. Ich finde es beunruhigend, mit welchem Tempo kluge Menschen, auch im SPIEGEL, in den vergangenen Wochen dazu ubergegangen sind, die vorgeblichen Irrtumer der westlichen Zivilgesellschaften uber die Moglichkeiten zur Erhaltung des Friedens anzuprangern.
Ich erschrecke daruber, wie fix gerade noch sanftmutig wirkende und fur den Primat diplomatischer Konfliktlosungen eintretende Intellektuelle sich in Bellizisten verwandelt haben. Deshalb habe ich den Beitrag, in dem der Jurist und SPIEGEL-Gastautor Thomas Fischer heute uber den Zustand der deutschen Gesellschaft nachdenkt, mit Neugier und auch einiger Erleichterung gelesen. >>Im Krieg geht es nicht um die bessere Moral<>Dass das eigene Kriegsziel immer das wahrhaft moralische sei, gilt fur alle Seiten und ist ein erwartbares Narrativ; man muss sich daruber nicht erregen.<>eine wahrlich erstaunliche Militarbegeisterung Platz gegriffen<>Zeitungen, Fernseh- und Radiosender ergehen sich in Lobeshymnen auf den gerechten Krieg, den die Ukraine jetzt fuhrt.<< Es sei an der Zeit, ein paar unangenehme Fragen zu stellen.
Etwa die nach Kriegen in anderen Teilen der Welt. In Katar soll im November eine Fussballweltmeisterschaft stattfinden. Die Glaubhaftigkeit des derzeitigen Abscheus vor volkerrechtswidrigen Kriegen relativiere sich ein bisschen, >>wenn man bedenkt, dass Katar bis 2017 Teil der von Saudi-Arabien gefuhrten Interventionstruppen im Jemen war, die dort seit 2015 Kriegsverbrechen begehen<>nicht Emotionsanheizung<<.
Der Schriftsteller Botho Strauss hat einst den fragwurdigen Satz gepragt: >>Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dummer; aber es muss sein: ohne sie!<>Anschwellender Bocksgesang<>Es ziehen aber Konflikte herauf, die sich nicht mehr okonomisch befrieden lassen.<>und dafur bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertaren Selbstbezogenheit fur falsch und verwerflich.<< Damit wurde Strauss in gewisser Weise zum Godfather aller heutigen Bellizisten.
Es sei sicher wahr, dass Russland in der Ukraine der Aggressor ist und der von Russland begonnene Krieg volkerrechtswidrig, schreibt Thomas Fischer. Angebliche >>Zeitenwenden<>breit, sachkundig, in Ruhe, ohne Angstschweiss auf der Stirn und Schaum vor dem Mund<>wie ein Erweckungswunder<>besorgniserregend<<.
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Lesen Sie hier den Gastbeitrag von Thomas Fischer: Unser Krieg: Nur die Wahrheit!
Und hier weitere Nachrichten und Hintergrunde zum Krieg in der Ukraine:
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Gazprom gibt offenbar deutsche Tochterfirma auf: Der russische Gasriese Gazprom gibt wohl seine deutsche Tochter Gazprom Germania auf. Der Konzern teilte mit, sich von dem Unternehmen und dessen Beteiligungen zu trennen. Die Konsequenzen fur Deutschland sind unklar.
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Bundeswehr will eigene Panzerfaust-Depots schnell auffullen: Deutschland hat der Ukraine 3500 Geschosse geliefert. Nach SPIEGEL-Informationen pocht die Truppe nun darauf, die Waffen fur 21 Millionen Euro schnell zu ersetzen – die Sicherheitsinteressen seien >>erheblich gefahrdet<<.
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Newsblog: Der Generalbundesanwalt geht gegen einen Reserveoffizier der Bundeswehr vor, der fur einen russischen Geheimdienst spioniert haben soll. Putin werden laut Scholz viele Wahrheiten zur Ukraine >>vorenthalten<<. Die News.
2. Ein neuer Notfallplan soll die Gefahr drohender Gasknappheit in Deutschland mindern – Wirtschaft und Politik sind fur den Worst Case eines Lieferstopps kaum gewappnet
In dem Wirtschaftskonflikt zwischen Russland und dem Westen, der durch Putins Krieg in der Ukraine ausgelost wurde, ist Deutschland verwundbarer als andere Staaten. Das steht in dem Report, den ein Team von SPIEGEL-Redakteurinnen und -Redakteuren als Titelgeschichte dieser Woche verfasst hat. Die deutsche Wirtschaft und die Bundesregierung sind demnach auf einen drohenden Stopp der russischen Gaslieferungen kaum vorbereitet. Etwa 25 Prozent des Energiebedarfs der Industrie im Land werden aus Gas gespeist. Rund 55 Prozent der Erdgasimporte kommen aus Russland. Wirtschaftsverbande und Gewerkschaften prophezeien deshalb in seltener Einigkeit, ein Gasembargo konne das Produktionsgewerbe mehr oder weniger zum Erliegen bringen.
Die Kollegen haben mit einem Unternehmer gesprochen, der buchstablich darum fleht, im Fall einer Versorgungskrise von einem volligen Gasstopp abzusehen und den Energietrager stattdessen zu rationieren, um wenigstens >>alles auf Sparflamme weiterlaufen zu lassen<>Es sind Uberlegungen, wie sie dieser Tage in der ganzen Bundesrepublik angestellt werden<>Wer bekommt dann noch den begehrten Rohstoff? Private Verbraucher und deren Heizungen haben Vorrang, das scheint – Stand heute – sicher. Auch Medikamentenhersteller und Krankenhauser, die offentliche Infrastruktur, stehen oben auf der Liste.<<
Deutschland ist offensichtlich auf einen Worst Case miserabel vorbereitet. Seit September 2019 gilt ein >>Notfallplan Gas fur die Bundesrepublik Deutschland<>Noch fliesst das Gas, aber verlassen mag sich darauf niemand mehr. Spatestens seit der Kreml Mitte vergangener Woche angekundigt hat, Russland werde fur seine Energieexporte nur noch Zahlungen in Rubel akzeptieren, herrscht Alarmstimmung in Politik und Wirtschaft.<<
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck rief bereits am Mittwoch die sogenannte Fruhwarnstufe des Notfallplans aus. Das Signal ist vor allem dafur gedacht, die Vorbereitungen in Behorden und Unternehmen zu beschleunigen. Vor gut einer Woche hatte sich die Bundesregierung noch geweigert, den Schritt zu gehen, offenbar auch aus Sorge, Panik zu verbreiten und damit den Gaspreis weiter in die Hohe zu treiben. Um eine Abschaltung zu verhindern und Deutschlands Speicherreserven moglichst lange zu schonen, fahnden Industrie und Netzbetreiber nun nach Moglichkeiten, den Verbrauch schnell zu senken. Last abwerfen, heisst das im Netzdeutsch.
>>Industriebosse und Bundesregierung haben sich viel zu lange auf das gunstige Gas aus Russland verlassen und sich damit Putins autokratischem Regime ausgeliefert<>Wenn der Standort Deutschland es nicht schafft, seinen Industriezweigen nachhaltig Energiesicherheit zu bieten, droht ein wirtschaftliches Fiasko: Konzerne wurden Werke und Jobs ins Ausland verlagern.<<
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Lesen Sie hier die ganze Titelgeschichte: Deutschland wappnet sich fur Tag X
3. Deutschlands Lehrkrafte benoten Kinder mit auslandisch klingenden Namen nach wie vor oft schlechter – und doch scheint sich die unfaire Verteilung der Chancen zu verringern
Die Soziologin Meike Bonefeld forscht unter anderem zu der Frage, wie Benachteiligungen von Kindern mit Migrationsgeschichte in der Schule vermieden werden konnen. Meine Kollegin Susmita Arp hat Bonefeld nach Erkenntnissen aus neuen Studien befragt. Etwa daruber, ob Kinder mit auslandisch klingenden Namen schlechter benotet werden. Bonefeld, die im Fach Psychologie promoviert hat und an der Universitat Mannheim arbeitet, berichtet von teils erstaunlichen Befunden, die zum Teil aber noch nicht grundlich wissenschaftlich gepruft seien.
Ob Kinder mit Migrationshintergrund schlechter oder besser bewertet wurden, schwankte demnach. In einem Experiment wurden Lehrkrafte gebeten, Kinder in Deutsch und Mathe aufgrund einer kurzen Beschreibung ihrer Leistung zu beurteilen. In Mathe hatte der Migrationshintergrund kaum einen Effekt, in Deutsch wurden die Kinder mit turkischen Namen benachteiligt. Ein moglicher Grund: Dass bei Lehrkraften mit positiven Einstellungen gegenuber turkeistammigen Schulern die Erwartungen enttauscht seien, wenn sie auf ein so schlechtes Diktat blicken. >>Sie denken: Ein Kind mit Migrationshintergrund kann doch so viel!<>So konnte man sich den Befund erklaren, wenn er sich bestatigen sollte.<<
Schulerinnen und Schuler einer 9. Klasse in Munster (Symbolbild)
Foto: Guido Kirchner / picture alliance/dpa
In einem anderen Experiment war das Ergebnis anders: 108 Lehramtsstudierende sollten Schulnoten fur Deutsch-Essays und Mathe-Tests vergeben. Diesmal erhielten Kinder mit Migrationshintergrund in Mathe schlechtere Noten. In Deutsch jedoch bekamen Jungen mit turkischem Namen, anders als man erwarten wurde, bessere Noten als Jungen mit deutschem Namen.
Grundsatzlich habe sich in allen Experimenten gezeigt, dass es bis heute einen kleinen Effekt des Migrationshintergrunds gibt. Er ist nicht immer stark und geht nicht immer in dieselbe Richtung, aber es gibt ihn. >>Egal ob zugunsten der Kinder mit oder ohne turkische Wurzeln, es bleibt unfair<<, sagt die Wissenschaftlerin Bonefeld.
Lasst sich aus den Forschungsergebnissen insgesamt eine eher ermutigende oder finstere Prognose fur die Angleichung der Bildungschancen ableiten? >>Ich kannte aus vielen Medienberichten die These, dass Migrantenkinder allein aufgrund ihres Namens schlechtere Noten bekommen<>Ich finde die Ergebnisse eher ermutigend: Die Notenunterschiede sind nicht gross und turkische Kinder keineswegs immer benachteiligt. In manchen Fallen bekamen sie bei gleicher Leistung sogar bessere Noten als Kinder mit deutschen Namen.<<
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: >>Es bleibt unfair<<
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Was heute sonst noch wichtig ist
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>>Goldene Himbeere<<-Verleiher nehmen Schmahpreis fur Bruce Willis zuruck: Mit der >>Goldenen Himbeere<< werden besonders grottige Filmauftritte geahndet – Bruce Willis hatte zuletzt eine kassiert. Mit Blick auf den Gesundheitszustand des Schauspielers wird der Antipreis nun aber annulliert.
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Polizei stand zur Festnahme von Will Smith bereit: Unmittelbar nach der Attacke gegen Chris Rock auf der Oscarbuhne waren Polizisten angeruckt, um Will Smith in Gewahrsam zu nehmen. Entscharft wurde die Lage erst durch das Angriffsopfer selbst.
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Corona erhoht das Diabetesrisiko – auch bei milden Verlaufen: Wer an Covid-19 erkrankt, hat ein hoheres Risiko, im Jahr danach Diabetes zu entwickeln, zeigt eine Studie mit rund 180.000 Probanden. Die Fachleute warnen vor einem >>Vermachtnis chronischer Krankheiten<<.
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Das passiert jetzt im Fall Gil Ofarim: Die Staatsanwaltschaft Leipzig hat Gil Ofarim wegen Verleumdung und falscher Verdachtigung angeklagt. Noch ist nicht abzusehen, wann es zu einem Prozess kommen konnte. Fur das Verfahren gibt es mehrere Optionen.
Meine Lieblingsgeschichte heute
Fifa-Prasident Gianni Infantino (r.) mit Katars Premierminister Scheich Khalid bin Khalifa bin Abdulaziz Al Thani beim Fifa-Kongress in dieser Woche vor der WM-Auslosung
Foto:
HAMAD I MOHAMMED/ REUTERS
Fur alle Menschen, die sich – aus grundsatzlich naturlich narrischen Grunden – fur den Fussballsport begeistern, ist die im November anstehende Weltmeisterschaft in Katar ein gruseliger Event. Mein Kollege Jens Weinreich schreibt meinungsstark und bestens informiert uber das absurde Spektakel, das der Weltverband und sein Chef anlasslich der WM-Auslosung in Doha auffuhren. Den organisierten Weltfussball nennt Jens >>ein intransparentes, in weiten Teilen korruptes bis schwer kriminelles System<<.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Das verlogene Theater des Fifa-Prasidenten Gianni Infantino
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Der Kriegswirtschaftsminister: Robert Habeck muss dafur sorgen, dass Deutschland die Energie nicht ausgeht. Er verhandelt mit Autokraten, kooperiert mit der Industrie und lasst sogar mehr Kohle verbrennen. Stellt er dafur sein wichtigstes Ziel hinten an?
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Warum kann China Russland nicht kritisieren, Herr Wu? Jedes verlorene Menschenleben sei eines zu viel, sagt Chinas Botschafter in Berlin, aber die russische Aggression verurteilt er nicht. Stattdessen beschuldigt er den Westen, durch Sanktionen und Waffenlieferungen >>Ol ins Feuer<< zu giessen.
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>>Der Champagnerkonsum nimmt zu<<: Zwei Jahre Pandemie, jetzt der Ukrainekrieg. Lufthansa-Chef Carsten Spohr uber steigende Ticketpreise, die Sehnsuchte seiner Kunden – und einen Regierungschef, der an Bord keine Maske tragen wollte.
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So fiel der Antisemitismus-Skandal von Leipzig in sich zusammen: Der Musiker Gil Ofarim gibt an, in einem Leipziger Hotel antisemitisch beleidigt worden zu sein. Dabei war offenbar alles ganz anders. Chronik einer Eskalation.
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Fataler Fehler in der Steinmeier-Formel: Seit Kriegsbeginn zeigt Bundesprasident Steinmeier maximale Distanz zu Putin. Und unterschlagt dabei, dass er dem Russen als Aussenminister manche Brucke baute. Fehlt ihm der Mut, Irrtumer einzugestehen?
Was heute weniger wichtig ist: vor Gluck fast verstummter Schlagerstar
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Matthias Reim, deutscher Sanger, hat offentlich gemacht, dass er zum siebten Mal Vater geworden ist. Seine Frau und Kollegin Christin Stark brachte eine Tochter zur Welt, die den Namen Zoe tragen soll. Reim hat bereits sechs Kinder aus fruheren Beziehungen und verkundete sein neues Vatergluck mit den Worten >>Wir sind unsagbar glucklich<<. Was sich nicht sagen lasst, davon kann Reim moglicherweise demnachst singen. Vorlaufig gab er nur bekannt: >>Zoe ist wirklich ein bildhubsches Madchen<<
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: >>Dabei ist nur der Umtausch von Bankoten im Wert 100, 200, 500 und 1000 Hrywnja zulassig.<<
Cartoon des Tages: Die ukrainischen Nazis sollen aufhoren, sich selbst zu bombardieren!
Und am Wochenende?
Konnten Sie sich auf einem Streamingkanal einen Film des Mannes ansehen, den mein Kollege Lars-Olav Beier >>Bruce Unsterblich<< nennt. Der in fast all seinen Rollen scheinbar unverwundbare Hollywoodschauspieler Bruce Willis muss nach Auskunft seiner Familie wegen einer Sprachstorung seine Karriere beenden, mit 67 Jahren. Was die Zahl seiner Gesichtsausdrucke angeht, war Willis stets einer der grossen Minimalisten des Weltkinos. Manche haben ihn verlacht, wollen es aber jetzt nicht mehr so recht wahrhaben. Einen Oscar habe er nie bekommen, auch keine Nominierung, emport sich Lars Olav – und empfiehlt ganz besonders die grossartige Darstellung, die Willis als Kinderpsychologe in >>The Sixth Sense<< abliefert (Lesen Sie hier die ganze Huldigung).
Einen schonen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Hobel
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