Widersprüchlichkeiten der Corona-Politik.
SPIEGEL: In wenigen Tagen fallen in weiten Teilen Deutschlands die Coronaschutzmaßnahmen. Ist das für Sie trotz der immens hohen Infektionszahlen eine gute Nachricht?
Andrea Kießling: Mich wundert es sehr, dass der Bundestag ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit einer allgemeinen Maskenpflicht in Innenräumen abschafft. Die Maske ist eine sehr niedrigschwellige und wenig einschneidende Maßnahme, die zugleich hohen Schutz bietet.
SPIEGEL: Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat an die Bundesländer appelliert, die Möglichkeiten des geänderten Infektionsschutzgesetzes über die sogenannte Hotspot-Regelung auszuschöpfen. Schiebt er damit die Verantwortung zu den Ländern ab?
AdvertisementKießling: Hier gibt es ein paar Missverständnisse. Der Bund hat auch bisher nur wenige Maßnahmen selbst vorgeschrieben, darunter etwa die Maskenpflicht im Fern- und Nahverkehr oder 3G am Arbeitsplatz. Die meisten anderen Maßnahmen wie die Maskenpflicht in Geschäften oder Schulen waren auch bisher schon in der Verantwortung der Bundesländer, da hatten wir sehr ähnliche Regelungen.
SPIEGEL: Was ist denn dann nun anders?
Kießling: Dass die Länder nun über die sogenannte Hotspot-Regelung für Maßnahmen wie die Maskenpflicht andere Voraussetzungen erfüllen müssen, es muss etwa eine Überlastung der Krankenhauskapazitäten drohen. Bislang konnten die Länder die Maskenpflicht ohne besondere Voraussetzungen einfach anordnen.
Andrea Kießling ist Expertin für Infektionsschutzrecht und lehrt an der Ruhr-Universität in Bochum. Sie wird regelmäßig als Sachverständige zu den Anhörungen des Bundestages geladen, wenn das Infektionsschutzgesetz geändert wird.
SPIEGEL: Um Maßnahmen wie Maskenpflicht und Zugangsbeschränkungen zu erlassen, müssen die Landesparlamente künftig eine kritische Lage feststellen. Mehrere Landesminister warnen, dass es dafür keine rechtssicheren Kriterien gebe. Stimmt das?
Kießling: Ich sehe tatsächlich drei Unsicherheiten. Erstens: Kann die Hotspot-Regelung auf das ganze Land angewendet werden? Zweitens: Was genau muss für die Feststellung dieser kritischen Lage vorliegen? Und drittens: Muss wirklich der Landtag nicht nur die Lage in den einzelnen Landkreisen beurteilen, sondern auch über die Maßnahmen dort entscheiden?
SPIEGEL: Mecklenburg-Vorpommern hat als einziges Bundesland flächendeckend eine Hotspot-Regelung erlassen, Hamburg zieht möglicherweise nach. Ist das von der Änderung des Infektionsschutzgesetzes gedeckt?
Kießling: Pauschal gesagt: Ja, das ist möglich. Denn im Gesetz ist nicht von einem Hotspot, sondern von einer Gebietskörperschaft die Rede. Das kann auch ein ganzes Bundesland sein. Es muss eben für das ganze Land begründet werden, dass überall eine »konkrete Gefahr einer sich dynamisch ausbreitenden Infektionslage« vorliegt. Mecklenburg-Vorpommern hat sich aber sogar dadurch abgesichert, dass jeder einzelne Landkreis in dem Hotspot-Beschluss genannt wurde.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach: Appelle an die Bundesländer
Foto: IMAGO/xcitepress/Benedict Bartsch / IMAGO/xcitepress
SPIEGEL: Eine »konkrete Gefahr einer sich dynamisch ausbreitenden Infektionslage« muss nachgewiesen werden. Was bedeutet das genau?
Kießling: Es muss eine von zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Eine Virusvariante mit signifikant höherer Pathogenität breitet sich aus. Oder: Den Krankenhauskapazitäten droht eine Überlastung. Beides ist sehr allgemein gefasst und birgt Unsicherheiten.
SPIEGEL: Was heißt das konkret?
Kießling: Was zum Beispiel bedeutet denn die Ausbreitung einer Virusvariante? Muss sie in Deutschland angekommen sein und Omikron bereits verdrängt haben? Muss sie tödlicher sein als der Urtyp oder Omikron? Da ist Interpretationsspielraum. Allein bei den Krankenhäusern ist es etwas greifbarer. Da geht es etwa um die Frage, ob planbare Operationen wegen der Pandemiebelastung verlegt werden müssen. Der Personalnotstand wiederum, den Lauterbach als ein Kriterium nennt, der herrschte ja schon ohne Corona. Insofern: Vieles bleibt Auslegungssache.
SPIEGEL: Dann können Sie die Zögerlichkeit der Bundesländer mit Blick auf die Hotspot-Regelung nachvollziehen?
Kießling: Einerseits ja, etwa was die Zuständigkeiten angeht, wenn über Maßnahmen in einzelnen Landkreisen entschieden werden muss. Das scheint mir nicht praktikabel, dass der Landtag in der einen Woche Maßnahmen für drei Landkreise und in der nächsten Woche für fünf andere beschließt. Es müssten doch die Behörden vor Ort oder die Landesregierung entscheiden, welche Maßnahmen angesichts der jeweiligen Lage notwendig sind. Bei der Frage nach Begründung der besonderen Infektionslage glaube ich hingegen, dass man das mit ein bisschen Mühe schaffen und belegen kann.
SPIEGEL: In Hamburg etwa hat die FDP mit Klage gedroht, sollte die Regierung eine landesweite Hotspot-Regelung erlassen. Hat das Aussicht auf Erfolg?
Kießling: Wenn es tatsächlich nur um eine Maskenpflicht im Supermarkt oder in Universitäten geht, dann glaube ich nicht an den Erfolg solcher Klagen. Bei den im Gesetz verwendeten gefahrenabwehrrechtlichen Begriffen darf man die Anforderungen bei milden Maßnahmen nicht überspannen. Aber wenn ein Land eingriffsintensivere Regeln wie 2G+ erlässt, dann würde das den Begründungsaufwand erhöhen, um rechtssicher zu sein.
SPIEGEL: In Berlin etwa fällt die Maskenpflicht an den Schulen, die Testpflicht aber soll bestehen bleiben. Das versteht man ja gar nicht mehr.
Kießling: Tatsächlich bedarf es für die Testpflicht an Schulen und Kitas keines Hotspots. Im Infektionsschutzgesetz ist geregelt, dass sie ohne besondere Voraussetzungen erlassen werden kann.
SPIEGEL: Logisch ist das aber nicht, oder?
Kießling: Ich sehe da einen klaren Widerspruch. Eine Testung verhindert doch immer nur die Folgeinfektion. Eine Maskenpflicht hingegen kann schon die erste Infektion verhindern.
Corona-Tests in Schulen: Die Testungen fallen nicht unter die Hotspot-Regelungen und können einfacher erlassen werden
Foto:
Ronny Hartmann / dpa
SPIEGEL: Es scheint, als gehe es den politisch Verantwortlichen derzeit vor allem darum, nicht verantwortlich zu sein. Die einen wollen nicht Ziel des Ärgers über strengere Regeln werden, die anderen nicht für mögliche neue Inzidenzrekorde und hohe Todeszahlen in Haftung genommen werden. Geht es überhaupt noch um wissenschaftliche Kriterien bei der Bewältigung der Pandemie?
Kießling: In der Politik herrscht Verantwortungspingpong. Begonnen hat das schon im November, als der Bundestag die epidemische Lage nicht mehr feststellen wollte. Das hat sich nun verschärft. Das Tragen einer Maske ist von der Politik zu einer prinzipiellen Angelegenheit gemacht worden, auch nach massiver Kritik der Länder will man das Gesetz nicht mehr ändern. Irgendwie hofft man wohl, dass genügend Personen eigenverantwortlich noch eine Weile vorsichtig sind.
SPIEGEL: Lauterbach bittet nun Supermarktbetreiber, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und die Maskenpflicht beizubehalten.
Kießling: Das ist schon kurios. Wie kann es sein, dass Lauterbach und andere aus der Bundesregierung die Maskenpflicht zwar als Notwendigkeit sehen, aber sie nicht vorschreiben? Die Politik überträgt diese Konflikte ins Private. Wir werden das auch an den Hochschulen merken. Ich kann zwar die Studierenden darum bitten, im Hörsaal Maske zu tragen. Wenn sie es nicht tun, kann ich mich auf keine Landesverordnung berufen. Das finde ich äußerst schwierig, denn es geht ja nicht nur um Selbstschutz, sondern darum, dass es immer noch Menschen in Deutschland gibt, die sich nicht schützen können oder besonders gefährdet sind, während gleichzeitig das Tragen einer Maske gut auszuhalten ist.
SPIEGEL: Wer künftig mit seinen kleinen Kindern, für die es noch keine Impfung gibt, einkaufen geht oder U-Bahn fährt, setzt sie einem hohen Infektionsrisiko aus, wenn keine Masken mehr getragen werden. Warum ist der Schutz dieser Kinder nicht so wichtig?
Kießling: Die kleinen Kinder werden jetzt in der Tat weniger geschützt als bislang. Rechtlich geht es immer um eine Risikoabwägung. Und natürlich ist für Pflegeheimbewohner mehr Schutz geboten als für Kinder, bei denen eine Coronainfektion meistens leicht verläuft. Trotzdem bleibt die Frage, ob es unverhältnismäßig wäre, die wenig einschneidende Maskenpflicht beizubehalten, um kleine Kinder zu schützen. Ich sehe da keine Unverhältnismäßigkeit. Eine andere Frage ist, ob umgekehrt der Staat gegen die Verfassung verstößt, wenn er Kinder nicht schützt. Es wäre jedenfalls geboten, über die entsprechenden politischen Entscheidungen auch wirklich zu diskutieren. Der Bundestag hat aber bei der Änderung des Infektionsschutzgesetzes noch nicht einmal erläutert, wie er das Infektionsgeschehen aktuell und in Zukunft mit den geänderten Maßnahmen einschätzt.