Was Bundestag und Bundesrat heute beschlossen haben, das muss viele in der Ampelkoalition schmerzen. Die Änderung des Infektionsschutzgesetzes ist ein Kompromiss, so betonen es Abgeordnete von Grünen und SPD auch in der heutigen Bundestagsdebatte. Mehr war in der Koalition offensichtlich nicht möglich.
Derjenige, den der Kompromiss am meisten schmerzen dürfte, spricht an diesem Freitag im Bundestag als Erster. Nachdem die Fraktionen über Wochen nicht zu einer Einigung gekommen waren, hatten SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach und FDP-Justizminister Marco Buschmann innerhalb von vier Tagen den Gesetzesantrag verhandelt.
Lauterbach hatte dabei, wie er immer wieder in Gesprächen betont, das Maximum rausgeholt. Dennoch musste er zulassen, dass die Maskenpflicht etwa in Supermärkten und Gastronomie beendet wird. Nur in sogenannten Hotspots können die Landtage sie noch einführen.
AdvertisementIn seiner Rede nimmt Lauterbach nun wieder die Doppelrolle ein, für die er in der vergangenen Woche vielfach kritisiert wurde. Sie dürfte ihm vor allem deshalb zukommen, weil Bundeskanzler Olaf Scholz keinen Regierungskrach über die Pandemiebekämpfung riskieren möchte.
»Die Pandemie ist leider noch nicht vorbei«, beginnt Lauterbach im Bundestag mit dem Satz, den er seit Monaten gebetsmühlenartig wiederholt.
Er zählt die Neuinfektionen und täglichen Toten auf. Er erinnert an die Debatte vom Vortag. Am Donnerstag hatten fraktionsübergreifende Gruppen ihre verschiedenen Anträge für eine Impfpflicht zum ersten Mal in den Bundestag eingebracht. »Unseren Freedom Day können wir erreichen, wenn wir diese Pandemie beenden, indem wir die allgemeine Impfpflicht beschließen. Das ist der einzige sichere Weg aus der Pandemie heraus«, sagt Lauterbach nun.
»Wir sprechen heute über einen schweren Kompromiss«
Wenn alle Maßnahmen fallen, erscheint die Impfpflicht nicht nur ihm als letzter Ausweg. Gleichzeitig dürfte ihre Einführung – wenn sie überhaupt gelingt – bei dem Tempo des Parlaments für die nächste Coronawelle im Herbst und Winter zu spät kommen. Erst im kommenden Monat soll es schließlich mit der schwierigen Debatte weitergehen.
Dann widmet sich Lauterbach der Einigung, die er und Buschmann erzielt haben. »Wir sprechen heute über einen schweren Kompromiss«, sagt Lauterbach. Er hätte sich als Epidemiologe gewünscht, dass man mehr hätte tun können. Aber es gehe darum, was rechtlich noch möglich sei. Er greift hier auf die Argumentation des Justizministers zurück.
Sie wirkt ein wenig fadenscheinig: Wieso ist das Maskentragen laut Gesetz künftig etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln vorgeschrieben, in Supermärkten aber nicht?
Doch Lauterbach muss gute Miene machen. »Das ist nicht der Kompromiss zwischen Team Freiheit und Team Vorsicht«, betont er gleich zweimal in seiner Rede. Es gehe darum, was man den Menschen noch zumuten könne.
»Wir haben durch die Omikron-Variante nicht mehr das Problem, dass wir eine Überlastung der Kliniken flächendeckend zu befürchten haben. Trotzdem wird es so sein, dass an vielen Stellen eine Überlastung kommen wird.« Dafür gebe es die Hotspot-Regelung. Wo ein ganzes Land Hotspot sei, da könne es auch als ganzes Land dazu erklärt werden, wie in Mecklenburg-Vorpommern, sagt Lauterbach. Wenn sich die Lage ändere, könne das Gesetz jederzeit angepasst werden. Der Gesundheitsminister lässt diese Hintertür eindeutig offen.
Viele in der Debatte tun es ihm gleich. Etwa der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Tino Sorge, der davon ausgeht, dass man sich »bald wiedersehen« werde, um das Gesetz zu verbessern.
Oder die Abgeordneten der Grünen, die auch heute, ähnlich wie bei der ersten Lesung des Gesetzes am Mittwoch, wieder mitteilen: »Wenn die Maßnahmen nicht ausreichen, müssen wir nachsteuern«. Aber, so sagt die Grüne Kirsten Kappert-Gonther, »das ist das, was innerhalb der Ampel vereinbar war«.
Kappert-Gonther springt mit ihrer Rede heute für den gesundheitspolitischen Sprecher Janosch Dahmen ein. Er ist, wie einige im Parlament und Bundestagspräsidium, an Corona erkrankt.
Pandemiepolitik wird vertagt
Es ist nicht das erste Mal, dass die Ampel eine Entscheidung der Pandemiepolitik mit zugekniffenen Augen vertagt. Als die angehende Ampelkoalition im November 2021 das Ende der sogenannten epidemischen Lage beschloss, da geschah das für einige – einschließlich des Bundesgesundheitsministers – mit Bauchschmerzen. Die Infektionszahlen waren hoch, viele Krankenhäuser voll.
Doch die FDP drängte darauf, den »Ausnahmezustand« zu beenden. Also einigte man sich auf eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Am 19. März, so wünschte schon damals die FDP, sollten alle Maßnahmen fallen. Der Termin schien zu diesem Zeitpunkt noch weit weg. So kam man überein, dass zumindest die Option bestehen bleiben sollte, die Maßnahmen im März um drei Monate zu verlängern. Als es nun an die Verhandlungen ging, war diese Option offenbar nicht mehr auf dem Tisch.
Dabei zeigte die letzte Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss ganz deutlich, dass das notwendig gewesen wäre. Sie hatte am Montag erst kurz vor der ersten Lesung stattgefunden. Ein Zeichen dafür – wie die Union nun im Bundestag betont –, dass man sie nicht wirklich ernst genommen habe.
In der Anhörung hatten viele Expertinnen und Experten davor gewarnt, die Maßnahmen zu beenden. Insbesondere die Maskenpflicht. »Wo Menschen aufeinandertreffen wird es zu Infektionen kommen, wenn wir so wichtige Maßnahmen einstellen wie das Maskentragen«, sagte etwa die Virologin Melanie Brinkmann. Es könne wieder passieren, dass sich das Virus so dynamisch entwickle, dass der Staat die Kontrolle über die Ausbreitung verliert.
»Wir können gar nichts machen«
Doch die FDP hielt sich augenscheinlich lieber an den Experten, der der Partei seit Monaten ihre Pandemiepolitik bestätigt und befragte elf Minuten lang den Bonner Virologen Hendrick Streeck. Dieser stellte fest, dass die Infektionen aufgrund des saisonalen Effektes in den nächsten Monaten zurückgehen würden. Expertinnen wie Brinkmann mahnten dagegen, dass es ohne Maßnahmen keinen solchen Effekt geben werde. Es war vergebens.
Vergebens auch die Einwürfe von Linken und Union im Bundestag, vulnerable Gruppen lebten nicht nur im Heim, sondern mitten in der Gesellschaft. Sie gingen also auch in Supermärkte, wo es künftig keine Maskenpflicht mehr geben werden.
Vergebens auch die Wut der Länder, die ihrem Ärger in einer Bund-Länder-Schalte am Donnerstag Luft gemacht hatten. Sie sprachen laut Teilnehmenden von einem »schlicht unsäglichen« Verfahren.
An diesem Freitag machen sie ihren Frust im Bundesrat öffentlich. Die heutige Beratung sei ein »Tiefpunkt der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern«, beginnt Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) die Debatte. Es habe gar keine Abstimmung mit den Ländern gegeben. Die Bundesregierung betreibe »gezielte Selbstverzwergung«. Die Bundesländer können dabei nur zusehen: »Wir können gar nichts machen«, sagt Bouffier.
Über Lauterbach bemerkt Bouffier: »Ich frag mich, was geht in dem eigentlich vor?« Der Minister erkläre die Hotspot-Regelung zum Regelfall. Aber das sei schlicht nicht umsetzbar in einem Flächenland.
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) legt nach. Bei der Pandemiebekämpfung habe es immer wieder geheißen, dass man keine Parteipolitik machen wolle. Jetzt aber lasse die Regierung die FDP genau das tun. »Hören Sie doch wenigstens auf den Bundesexpertenrat!«, ruft Ramelow später.
Doch die Ampel hat sich längst dagegen entschieden.
Am Ende legen die Bundesländer gegen das Gesetz trotzdem keinen Widerspruch ein. Da es ein sogenanntes Einspruchsgesetz ist, wäre das die einzige Möglichkeit gewesen, das Ganze zu stoppen. In diesem Fall hätte es aber erst mal gar keine Coronaregeln mehr gegeben.
Einzelne Länder haben bereits angekündigt, die geltenden Maßnahmen noch um zwei Wochen zu verlängern, das gesteht ihnen das neue Gesetz zu.
Die Ampelregierung entfernt sich an diesem Tag von der wissenschaftlich fundierten Pandemiepolitik, mit der sie angetreten war. Das schadet nicht nur dem Gesundheitsminister. Das schadet vermutlich auch vielen Menschen im Land. Natürlich können die Abgeordneten noch einmal nachbessern.
Die Frage ist nur, wie viel Spielraum die FDP ihnen beim nächsten Mal lassen wird.