: Wolodymyr Selenskyj im Bundestag, Karl Lauterbach uber Impfpflicht, Oskar Lafontaine //
Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Selenskyj im Bundestag – Ist die Wurde des Parlaments nur eine Moglichkeitsform?
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Coronadebatte – Was setzt die Politik dem Virus entgegen?
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Lafontaines Ruckzug – Warum tritt er auch bei der Linken aus?
1. Selenskyj im Bundestag – Parlaments-Wurde im Konjunktiv
>>Das Parlament fordert durch seine standige Ritualisierung und die Verschiebung der Prozesse ins Unsichtbare<>Das hohe Haus<< (einen fulminanten Nachruf auf Willemsen finden Sie hier). Damals hiess die Kanzlerin noch Merkel, der Bundestagsprasident Lammert, der Wirtschaftsminister Rosler. Der russische Prasident hiess wieder Putin (nach einem Intermezzo als Ministerprasident) und war noch nicht uber die Krim hergefallen. Eine andere Zeit.
Heute sprach der ukrainische Prasident Wolodymyr Selenskyj zu den Abgeordneten des Bundestages, per Video zugeschaltet aus dem umkampften Kiew. Eindringlich warnte er vor den Folgen des Krieges in seinem Land. In Europa entstehe eine >>neue Mauer<>Helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen<>Es sind bittere Worte, die der Prasident aus Kiew in den Plenarsaal spricht<>Selenskyj erinnert an die Grauel im Zweiten Weltkrieg, an Babi Jar, den Ort bei Kiew, in dem die Deutschen im September 1941 rund 33.000 Juden ermordeten, ein Ort, der zuletzt von Russland bombardiert wurde.<< Er schont seine Zuhorer in Berlin nicht. Russland nutze Deutschland und andere Lander aus, um den Krieg zu finanzieren.
Es ist Selenskyjs vierte Rede vor einem westlichen Parlament in kurzester Zeit, am Vortag hat er zum US-Kongress gesprochen, davor zum kanadischen Parlament, zum britischen Unterhaus. Eine historische Rede. (In voller Lange hier zu finden.)
Und wie reagiert der Bundestag? Die Abgeordneten erheben sich, applaudieren, auch das Kabinett und die Vertreter der Lander.
>>Und dann beginnt eine Posse, wie sie wohl nur in einem deutschen Parlament stattfinden kann<>Ich hatte gerne weniger Spiessertum, symbolisches Handeln und Hierarchien erlebt.<<
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Lesen Sie hier mehr: …und um 9.53 Uhr herrscht schon wieder deutscher Parlamentsalltag
Und hier finden Sie aktuelle Nachrichten und Hintergrunde zum Krieg in der Ukraine:
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Steigende Todeszahl russischer Soldaten wird zur Gefahr fur die Truppenmoral: Mehr als 7000 russische Soldaten, so ein Bericht der >>New York Times<<, konnten im Ukrainekrieg bereits gefallen sein. Aus dem Pentagon heisst es demnach, die hohen Verluste konnten den Kampfwillen der Bodentruppen zerstoren.
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>>Niemand kann gegen die halbe Welt kampfen und gewinnen<<: Ihr Vater habe Putin sehr fruh durchschaut, sagt die Tochter des 2015 ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow. Hier spricht Schanna Nemzowa uber den Krieg in der Ukraine, Fehler des Westens und die Menschen in Russland.
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Wird der Konflikt uber die Ukraine hinaus eskalieren? >>Das ist bereits geschehen<<: Der fruhere US-Sicherheitsberater H.R. McMaster fordert den Westen auf, die Waffenlieferungen an die Ukraine drastisch auszuweiten – und nennt vier Ziele im Umgang mit den >>revisionistischen Diktaturen<< in Moskau und Peking.
2. Corona-Wachstum, Corona-Stillstand
Dann diskutierte der Bundestag uber Corona. Falls es jemand vergessen hat: Die Neuinfektionen erklimmen immer neue Hochststande, die Omikron-Welle ist nicht gebrochen, im Herbst drohen neue Virusvarianten. Nun musste das Parlament bei zwei Pandemie-Themen weiterkommen. Zum einen sollen am Freitag die Neuerungen im Infektionsschutzgesetz beschlossen werden: Kunftig wird nur ein Minimum an Schutzmassnahmen erhalten bleiben. Zum anderen sollte es bei der Impfpflicht mit der ersten Lesung an diesem Donnerstag zumindest ein wenig vorangehen. >>Doch die Parlamentarier haben den steigenden Infektionszahlen wenig entgegenzusetzen<<, berichtet meine Kollegin Milena Hassenkamp.
Vielleicht steckt alles Wesentliche in einem Satz, den Karl Lauterbach heute im Parlament rief: >>Wir kommen nicht weiter!<<
Eine neue SPIEGEL-Umfrage zeigt ubrigens: Eine Mehrheit ware weiterhin fur strengere Massnahmen – und fur die Impfpflicht.
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Lesen Sie hier mehr: Die Impfpflichtdebatte im Bundestag
3. Lafontaine, ein Mann der Kontraste
Uber Oskar Lafontaine schrieb der SPIEGEL-Reporter Jurgen Leinemann 1995: >>Er ist ein Mann der inneren Kontraste. Und die Art, wie Oskar Lafontaine es in der vergangenen Woche verstanden hat, seine eigenen Ambivalenzen mit den seelischen Schuttelfrosten der Partei in Einklang zu bringen, tragt ihn unangefochten an die Spitze.<>Wenn wir selbst begeistert sind, konnen wir auch andere begeistern<<-Rede den glucklosen Rudolf Scharping vom SPD-Vorsitz verdrangt.
Heute hat Lafontaine, der sich laut Leinemann wie kein anderer auf Wechselbader verstand, seine wechselhafte politische Karriere beendet. Er verliess, wieder einmal, eine Partei – und das erneut im Zorn: Die Linke habe den Anspruch aufgegeben, eine Alternative zur Politik sozialer Unsicherheit zu sein, sagte Lafontaine.
Mit ahnlicher Begrundung, aber deutlich mehr Pathos hatte er sich 1999 vom Amt des Finanzministers verabschiedet, wenige Monate nach dem rot-grunen Wahlsieg. Damals hatte er seinen Sohn auf den Schultern und den Satz auf den Lippen: >>Das Herz wird noch nicht an der Borse gehandelt, aber es hat einen Standort – es schlagt links.<< Es muss in jener Zeit gewesen sein, dass seine Fahigkeit zu verkummern begann, die eigenen Ambivalenzen mit den Schuttelfrosten seiner jeweiligen Partei in Einklang zu bringen.
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Lesen Sie hier mehr: Warum Lafontaine die Linke verlasst
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Baerbock beliebteste Ampelministerin, Spiegel und Lambrecht ganz hinten: Seit 100 Tagen regiert die Ampel die Republik, Ukrainekrieg und Coronakrise bestimmen die Arbeit der Koalition. Wie zufrieden sind die Deutschen mit Kanzler Scholz und seinem Kabinett? Der SPIEGEL-Regierungsmonitor.
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Reaktorkuhlsystem in Fukushima zwischenzeitig ausgefallen: Laut Berichten lokaler Medien kam es nach den schweren Erschutterungen in Japan auf dem Gelande des Kernkraftwerks Fukushima zum zeitweiligen Stopp eines Kuhlsystems. Folgenreiche Schaden wurden bisher nicht gemeldet.
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>>Einzelganger ohne soziale Bindungen<< Warum schoss der Attentater an der Universitat Heidelberg um sich? Die Ermittler haben versucht, dafur eine Erklarung zu finden – und wollen gegen einen Wiener Waffenhandler vorgehen.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Sturzt der Frontex-Chef doch noch uber den Pushback-Skandal? : Recherchen der EU-Antibetrugsbehorde und interne Dokumente bringen Fabrice Leggeri in Bedrangnis. Der Frontex-Chef vertuschte die brutalen Einsatze griechischer Grenzschutzer – offenbar gegen den Willen seiner Mitarbeiter.
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Materialmangel kostet Zehntausende Jobs in Industrie und Baubranche: Halbleiter, Kabelbaume, Bauholz: Deutschen Unternehmen fehlt derzeit vieles, was sie fur die Produktion brauchen. Okonomen haben nun berechnet, wie sich das auf den Arbeitsmarkt auswirkt.
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>>Fast alle hatten vor ihrer Erkrankung ein sehr hohes Leistungsniveau<< Viele Menschen erholen sich nicht von ihrer Coronainfektion. Wie viele Patienten kommen nach der Omikron-Welle dazu und wie kann man Long Covid vorbeugen? Antworten von der Expertin Jordis Frommhold.
Was heute weniger wichtig ist
Obama, DeGeneres: Ellen, gebogen vor lachen
Foto via www.imago.images.de/imago images/Everett collection
Ellens lange Liste: Die US-Moderatorin Ellen DeGeneres, 64, wird in der letzten Ausgabe ihrer >>Ellen DeGeneres Show<>Deadline<>Entertainment Weekly<< berichten. Erwartet werden demnach auch Jennifer Garner, 49, Channing Tatum, 41, Zac Efron, 34, Adam Levine, 42, Gwen Stefani, 52, David Letterman, 74, Diane Keaton, 76, Serena Williams, 40, und Kim Kardashian, 41. Auch DeGeneres' Ehefrau, die Schauspielerin Portia de Rossi, 49, werde auftreten. Das klingt nach einer Menge, ist aber fast nichts im Vergleich zu den mehr als 4000 Gasten, die in der Talkshow schon aufgetreten sind. Sie lauft seit 2003 bei NBC. Die Gastgeberin sagte einmal: >>Als kreative Person muss man standig herausgefordert werden – und so grossartig diese Show auch ist und so viel Spass sie auch macht, sie ist einfach keine Herausforderung mehr.<<
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Die Abwehrrakten und gut 100 geschulte Soldaten sollen laut Verteidigungsminister Ben Wallace zum Nato-Partner geschickt werden.
Cartoon des Tages: Sanktionen
Foto:
Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Konnten Sie im Keller oder auf dem Dachboden nach der Kiste mit den alten Comics suchen – und die Gaston-Hefte noch einmal lesen. Denn bald soll das wohl anarchischste und beliebteste Buro-Faktotum der Comic-Geschichte mit einem neuen Zeichner auferstehen.
30 Jahre nach dem Tod ihres Schopfers Andre Franquins soll die Figur nun wiederbelebt werden, kundigte der Dupuis-Verlagsleiter auf dem Internationalen Comicfestival in Angouleme an. Der Comicverlag, der dieses Jahr sein 100. Jubilaum feiert, hat die Neuauflage von >>Gaston Lagaffe<>Le Retour de Lagaffe<<, ein klassisches Comic-Album mit 48 Seiten, der 22. Band der Serie, soll am 19. Oktober erscheinen. Die Startauflage ist enorm: 1,2 Millionen Exemplare. (Hier mehr dazu.)
Die Ankundigung durfte bei der Familie Franquins wenig Begeisterung hervorgerufen haben, denn der Zeichner und Autor hatte verfugt, dass Gaston nach seinem Tod nicht weiterleben sollte. Schon als 2018 eine Filmversion in die franzosischen Kinos kam, hatte sich Franquins Tochter Isabelle missmutig in der Zeitung >>L’Avenir<>Ich sehe dem Desaster hilflos zu.<< Seit 2014 liegen die Rechte an der Figur jedoch wieder bei Dupuis. Dann doch lieber die Klassiker noch einmal lesen. Poh.
Ihnen einen schonen Abend. Herzlich
Oliver Trenkamp
Hier konnen Sie die >>Lage am Abend<< per Mail bestellen.