Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um die kluge Strategie des westlichen Verteidigungsbündnisses. Um Christian Lindners neue Schulden. Und um die erstaunliche Passivität der Bundesregierung in der Flüchtlingsfrage.
Die Besonnenheit der Nato
Am 21. Tag des russischen Krieges gegen die Ukraine treffen sich heute die Verteidigungsminister der Nato-Staaten in Brüssel. Erwartet werden Beschlüsse für eine erhebliche Verstärkung der Abschreckung. Eine deutliche Ausweitung der Militärpräsenz in östlichen Mitgliedsländern wie Polen oder den baltischen Staaten ist wahrscheinlich. Das ist richtig und wird Wladimir Putin erneut vor Augen führen, dass die Beistandsklausel des Bündnisses, wonach ein Angriff auf ein Mitgliedsland als Angriff auf alle Mitgliedsländer gewertet und entsprechend beantwortet wird, intakt ist.
Nato-Hauptquartier in Brüssel
Foto: FRANCOIS LENOIR/ REUTERS
Die Nato-Staaten haben in den vergangenen Wochen nicht nur zu neuer Solidarität untereinander gefunden – sie haben bislang auch überwiegend klug auf den russischen Angriffskrieg reagiert. Einerseits erhöhen sie die Kampfkraft in ihren östlichen Gebieten. Zugleich achten sie penibel darauf, nicht in eine direkte militärische Konfrontation mit Russland zu geraten, die zur völligen Eskalation führen könnte.
Deshalb ist es richtig, dass all die ukrainischen Rufe nach Errichtung einer Flugverbotszone ebenso ignoriert werden wie andere Forderungen nach einem direkten militärischen Eingreifen durch die Nato oder einzelne Mitgliedstaaten.
So verständlich diese Rufe und Bitten aus der Sicht der Ukrainer auch sind – es gibt eine Verantwortung, die über die Ukraine hinausreicht. Sie umfasst die gesamte Menschheit. Und der wäre mit einer Ausweitung des Krieges zu einem Flächenbrand nicht geholfen. Unklar ist in diesem Zusammenhang noch, wie der Vorstoß Polens aus der Nacht zu bewerten ist. Bei einem geheim geplanten Besuch in Kiew hatte das Land eine Nato-»Friedensmission« gefordert. Diese müsse in der Lage sein, sich zu verteidigen, so der polnische Vize-Regierungschef Jarosław Kaczyński.
Die Lindner-Schulden
Finanzminister Lindner
Foto: Thomas Koehler / imago images/photothek
Die Auswirkungen des Krieges spürt dieser Tage auch der Bundesfinanzminister. Eine seriöse Etatplanung ist für Christian Lindner aktuell kaum möglich. Wohl noch nie hatte ein Haushaltsentwurf eines Finanzministers eine kürzere Halbwertzeit als jener, den Lindner heute dem Kabinett vorlegen wird, er ist quasi schon zum Zeitpunkt seiner Präsentation überholt. Lindner plant für dieses Jahr mit einer Neuverschuldung von 99,7 Milliarden Euro, genau so viel wie die Vorgängerregierung.
Doch schon ist klar, dass dies bei Weitem nicht reichen wird. Sämtliche Kosten, die der Krieg in der Ukraine mit sich bringt, vom Tankrabatt bis zur Unterbringung Hunderttausender Flüchtlinge, sind noch nicht einkalkuliert. Das möchte Lindner mithilfe eines Ergänzungshaushalts nachholen. In den kommenden Wochen und Monaten will er die Zahlen nachreichen. Noch weiß Lindner selbst nicht, wie viel zusätzlichen Kredit er aufnehmen muss. Fest steht nur: Es werden deutlich mehr als 100 Milliarden Euro sein.
Krisenkabinett
Die heutige Kabinettssitzung, in der es um Lindners Haushaltsplanung geht, wurde auf 8 Uhr vorverlegt. Im Anschluss findet von 9 Uhr bis 12 Uhr eine Kabinettsklausur zu den Folgen des russischen Angriffskrieges statt. Dabei soll es unter anderem um die Evakuierung von Ukrainerinnen und Ukrainern gehen, die intensiver medizinischer Behandlung bedürfen, zum Beispiel krebskranke Kinder. Im Zentrum der Beratung aber wird die Situation der vielen Flüchtlinge stehen, die Deutschland bereits erreicht haben oder in den nächsten Tagen erwartet werden.
Flüchtlinge und Helfer am Berliner Hauptbahnhof
Foto: Jochen Eckel / imago images/Jochen Eckel
Bislang werden diese vor allem von freiwilligen Helfern und Hilfsorganisationen unterstützt. Diese aber können keine flächendeckende Verteilung der Geflüchteten über das gesamte Bundesgebiet gewährleisten, die fair und sinnvoll wäre. Es wird höchste Zeit, dass der Bund hier aktiv wird und die Koordination übernimmt, zum Beispiel mit der Einrichtung eines Krisenstabes. Das ist, drei Wochen nach Ausbruch des Krieges, nicht zu viel verlangt. Allmählich müssen sich die dafür zuständigen Ministerinnen und Minister fragen lassen, was sie eigentlich beruflich machen.
Gewinnerin des Tages…
Anti-Kriegs-Demonstrantin Owsjannikowa, hinten rechts.
Foto: — / dpa
…ist Marina Owsjannikowa, die langjährige Redakteurin des russischen Staatsfernsehens, die nun den Mut aufbrachte, in ihrem Sender live gegen den russischen Krieg zu protestieren.
Es gab in der jüngeren Vergangenheit weltweit kaum einen mutigeren Akt der Zivilcourage. Mitten in den Hauptabendnachrichten hielt Owsjannikowa ein Plakat gegen den Krieg mit der Aufschrift in die Kameras: »Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen«. In einem Schnellverfahren wurde sie heute zu umgerechnet 250 Euro Strafe verurteilt. Was Owsjannikowa darüber hinaus droht, ist völlig offen.
Im Besten aller Szenarien wird sie zum Vorbild für andere Russen, die ebenfalls ihre Ablehnung des Krieges ausdrücken. Oxxxymiron, einer der beliebtesten Rapper in Russland, eröffnete sein gestriges Konzert in Istanbul mit einem Zeichen der Solidarität für die Ukraine. Alle Einnahmen des Abends sollten an Hilfsorganisationen für Ukrainerinnen und Ukrainer gehen.
Eine solch demonstrative Abkehr prominenter Russen ist womöglich die effektivste Waffe im Kampf gegen Putin. Möge Marina Owsjannikowa eines Tages als historische Figur gefeiert werden, die den Anstoß zum Umsturz gab.
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Einen heiteren Mittwoch, trotz alledem, wünscht Ihnen
Ihr Markus Feldenkirchen