Als Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine hat in Deutschland eine Debatte uber eine Wiederbelebung der ausgesetzten Wehrpflicht begonnen. Aus meinen Gesprachen mit der Truppe und Experten weiss ich, dass sie einerseits keinen militarischen Nutzen hatte – im Gegenteil. Die Infrastruktur fur die Ausbildung so vieler junger Menschen fehlt, das fangt schon bei Unterbringungsmoglichkeiten an. Ausserdem bindet die Ausbildung von Wehrpflichtigen viel Personal und Zeit. In sechs oder auch 18 Monaten konnen Soldatinnen und Soldaten kaum lernen, modernstes Gerat wie den Schutzenpanzer Puma zu bedienen. Eine Wiedereinfuhrung der Wehrpflicht wurde die Bundeswehr heute also eher belasten, als dass sie wirklich wirkungsvoll ware.
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Johannes Neudecker / dpa
Serap Guler, Jahrgang 1980, wurde 2021 in den Deutschen Bundestag gewahlt. Sie ist Mitglied des CDU-Bundesvorstands. Zuvor war sie von 2017 bis 2021 Staatssekretarin fur Integration im Ministerium fur Kinder, Familie, Fluchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen.
Die Debatte greift auch insgesamt zu kurz: Wir mussen gesamtgesellschaftlich resilienter werden. Allein mit der Wiedereinfuhrung der Wehrpflicht ist das nicht getan.
Was wir stattdessen brauchen, ist ein verpflichtendes soziales Gesellschaftsjahr fur alle jungen Menschen, die ihren Schulabschluss in Deutschland machen – unabhangig von Geschlecht und Staatsburgerschaft. Schliesslich gibt es auch eine Schulpflicht fur alle, nicht nur fur Deutsche. Die gleichen Regeln konnten fur ein Gesellschaftsjahr gelten, das zum Beispiel bei Hilfsorganisationen, sozialen Diensten, im okologischen Bereich oder eben in der Bundeswehr abgeleistet werden kann.
Ein solches Jahr brachte gleich mehrere Vorteile mit sich: In vielen Berufen, etwa dem Gesundheits- und Pflegewesen sowie in der Sozialpadagogik, herrscht in Deutschland ein extremer Fachkraftemangel. Naturlich ware es ein Irrglauben, anzunehmen, dass diese strukturellen Probleme unmittelbar gelost wurden, indem man unausgebildete Hilfskrafte einsetzt. Auch das Fachkraftezuwanderungsgesetz hat wenig an der Personalnot geandert.
Aber warum sollten wir nicht versuchen, diese fur den gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtigen Bereiche in ihrer Personalnot punktuell zu entlasten und junge Menschen mit sozialen Berufen naher bekannt zu machen? Vielleicht schaffen wir es, sie so fur diese tollen und erfullenden Tatigkeiten zu begeistern. Der Dienst an anderen Menschen hilft gerade jungen Mannern und Frauen auch in ihrer personlichen Entwicklung. Hautnahe und damit wertvolle Erfahrungen wie diese konnten dazu beitragen, dass sie ein besonderes Verantwortungsbewusstsein entwickeln.
Beim zivilen Krisenmanagement fehlen ebenfalls Freiwillige, wie wir wahrend der Coronapandemie schmerzlich erfahren mussten. Auch hier kann ein Gesellschaftsjahr und das daraus automatisch rotierende Personal Abhilfe leisten.
Fur diese Bereiche sollten wir auf bestehende Strukturen aufsatteln, etwa denen des Freiwilligen Sozialen Jahres oder des Freiwilligen Okologischen Jahres. Dass junge Menschen hier Kenntnisse erwerben, kann der nachhaltigen Lebensweise, die unsere Gesellschaft in Zukunft noch starker auszeichnen muss, nur zugutekommen. Auch das Gemeinschaftsgefuhl innerhalb einer Generation kann durch die gemeinsame Erfahrung eines Gesellschaftsjahrs integrativ wirken. Hier kommen Menschen aller gesellschaftlichen Schichten zusammen, lernen sich kennen und entwickeln ein Verstandnis fureinander.
Daneben sollten alle Manner und Frauen nach ihrem Schulabschluss die Moglichkeit haben, ihr Gesellschaftsjahr bei der Bundeswehr zu leisten. Hier musste eine strikte Auswahl stattfinden, die sich an einem personellen Umfang orientieren muss, der fur die Nachwuchsgewinnung militarisch sinnvoll ist. Konzepte dafur konnten die Truppe und das Bundesamt fur das Personalmanagement der Bundeswehr erarbeiten.
Und auch, wenn fur militarische Dienstposten und damit fur den Dienst an der Waffe im Gesellschaftsjahr die deutsche Staatsangehorigkeit Voraussetzung ist: In zivilen Bereichen in der Bundeswehr sollten auch Schulabganger jeglicher Staatsburgerschaft die Chance haben, die Bundeswehr kennenzulernen. Dies bietet auch unter integrationspolitischen Gesichtspunkten immense Moglichkeiten. Die jungen Menschen identifizierten sich womoglich noch starker mit der Bundesrepublik Deutschland, mit dem Grundgesetz und den Werten, fur das es steht, und fur die die Bundeswehr im Besonderen steht. Vielleicht wird der eine oder die andere nach diesem Jahr die Streitkrafte so interessant finden, dass er sich eine militarische Karriere vorstellen kann und dafur die deutsche Staatsburgerschaft anstrebt – eine Win-win-Situation also.
Gerade in diesen Tagen reden wir angesichts des Krieges und seiner Folgen, wie die aktuelle Fluchtlingssituation, viel uber den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Solch ein Gesellschaftsjahr konnte dazu beitragen, dass dieser nicht nur mit wohlfeilen Worten, sondern auch mit erfullenden Taten gestarkt, geformt und hoffentlich sogar (neu) erlebt wird. Die aktuelle Debatte uber eine Zeitenwende in Deutschland bietet die Chance, nicht nur uber eine bessere Ausrustung unserer Bundeswehr zu sprechen, sondern auch sozial aufzurusten.