ine-Krieg: Die EU muss verstehen, dass sie nicht mehr der Engel ist //
Der Krieg in der Ukraine sturzt die Europaische Union in grosste Probleme. Sie wird ihr Ethos und ihr Auftreten andern mussen – ihre Institutionen sind darauf allerdings nicht vorbereitet.
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Geschichte ist wie >>ein Pferd ohne Reiter, das durch die Nacht galoppiert<<. Mit diesem Bild beschrieb der spanische Premierminister Felipe Gonzalez die Nacht, in der die Berliner Mauer fiel. Seit dem 24. Februar leben wir wieder in einem solchen Moment. In den fruhen Morgenstunden dieses Tages sturmte die Geschichte aus den Stallen. Werden wir in der Lage sein, sie wieder zu zugeln?
Der russische Prasident Putin hat sich mit dem Einmarsch in die Ukraine in das Undenkbare gesturzt. Er hat den Rubikon uberschritten. Es gibt fur ihn keinen Weg zuruck. Feuer und Flamme, alles oder nichts. Die Anerkennung der beiden Donbass-Republiken am Montag, dem 21. Februar, offnete die Tur zum Stall. Innerhalb von drei Tagen begann das Grauen.
Politischer Wille und kuhler Kopf sind fur die Europaer jetzt von entscheidender Bedeutung. Ersteres ist in Hulle und Fulle vorhanden, letzteres ist Mangelware.
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ROBINUTRECHT/picture alliance / ANP
Luuk van Middelaar ist Historiker an der Universitat Leiden. Bevor er Professor wurde, arbeitete er fur den Herman von Rompuy, des ersten Prasidenten des Europaischen Rats. Middelaars Buch >>Vom Kontinent zur Union – Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa<>Europaisches Pandamonium<< uber die Bedeutung der Corona-Pandemie fur die europaische Politik.
Das geopolitische Erwachen
In Zeiten grosser Gefahr werden unerwartete Krafte freigesetzt. Da ist zum einen die Ukraine, die die ersten Schlage tapfer weggesteckt hat und in der Schlacht um die offentliche Meinung in Europa einen erstaunlichen Sieg errungen hat. Wir haben es nun nicht mehr mit einem chaotischen Vierzig-Millionen-Einwohner-Land am Schwarzen Meer zu tun, sondern mit einer Nation, die sich als Tragerin des demokratischen Versprechens Europas prasentiert, mit ihrem Prasidenten Wolodymyr Selenskyj als universellem Helden.
Mindestens ebenso unerwartet kommt die politische Mobilisierung Deutschlands. Nach Jahren der Zogerlichkeit beabsichtigt die Bundesrepublik nun, ernsthaft aufzurusten. Ausserdem hat sie angefangen, Kiew militarisch zu unterstutzen. Berlin bricht mit seiner Wirtschaftspolitik gegenuber Moskau, erkennt seine Abhangigkeit von Gas als strategischen Fehler und stellt sich der Naivitat und der Scheinheiligkeit des deutschen Exportmodells. Was die ostlichen Nachbarn und mehrere US-amerikanische Prasidenten in vielen Jahren nicht geschafft haben, hat Putin mit einem Schlag vollbracht: Deutschland ist geopolitisch erwacht.
Bundeskanzler Scholz sprach im Bundestag von einer >>Zeitenwende<>Wende<< verleiht der gesamten Europaischen Union mehr Einigkeit und Starke. Europa setzt seine Wirtschaftskraft ein und zeigt sich bereit, im Interesse von Sicherheit und Frieden Einbussen in seinem Lebensstandard in Kauf zu nehmen. Diese Bereitschaft zu grossen wirtschaftlichen Opfern ist neu und zeugt von einem sich vertiefenden politisch-strategischen Verstandnis. Es ist bemerkenswert, dass die Europaische Union Waffen im Wert von 450 Millionen Euro an Kiew liefert, etwas, das bis letzte Woche tabu war. Die EU hat den Eindruck, damit ihren ganz eigenen Rubikon zu uberschreiten. Das europaische Friedensbundnis ist nun Partei in einem Konflikt mit einer militarischen und nuklearen Supermacht.
Aber die Auswirkungen des deutschen Erwachens reichen weiter. Solange das machtigste Land Europas militarisch zuruckhaltend war, konnte Europa nicht stark sein. Jetzt, da Deutschland in seine Armee investiert und die Realitaten der internationalen Machtpolitik akzeptiert, kann sich vieles andern. Solange der Impuls fur geopolitisches Handeln vor allem von Frankreich ausging – so war es von General De Gaulle bis zu Prasident Macron – blieben die meisten anderen Staaten einem grosseren europaischem Engagement in militarischen Dingen gegenuber misstrauisch. Jetzt, da Berlin sein Engagement erhoht, wird sich Paris weniger allein fuhlen. Andere Nachzugler bei den Verteidigungsausgaben, wie die Niederlande oder Italien, werden sich nicht mehr hinter Deutschland verstecken konnen.
Der franzosische General Charles de Gaulle, 1944
Foto by Serge DE SAZO/ Gamma Rapho/ Getty Images
Die neue Rolle fur Polen
Die jungsten Ereignisse bestarken aber auch Polen und die anderen mittel- und osteuropaischen EU-Mitgliedstaaten. Jahrelang sah man deren Warnungen vor Russland in den Hauptstadten Europas im Westen und Suden (ausser vielleicht in London) als Ubertreibungen. Dies hat sich nun geandert. Man wird sich auch in den Einschatzungen von Bedrohungen und Risiken annahern: Das ist die Voraussetzung fur gemeinsames geopolitisches Handeln.
Man sollte auch nicht vergessen, dass der polnische Premierminister zusammen mit dem litauischen Prasidenten vor der deutschen >>Zeitenwende<< nach Berlin kam, um an das Gewissen von Scholz zu appellieren. Auch das war noch vor wenigen Wochen undenkbar. Da sass Polen auf der Anklagebank, weil es gegen die Rechtsstaatlichkeit verstossen hatte. Heute ubertrumpfen Frieden und Sicherheit diese gerechtfertigten Sorgen.
Es gibt eine Menge Beifall, mit dem Deutschlands geopolitisches Erwachen im ubrigen Europa (und in den Vereinigten Staaten) begrusst wird. Es klingt aber auch ein gewisses Unbehagen durch. Wie wird sich dieser plotzliche Wandel auf lange Sicht auswirken? Bei aller Verlasslichkeit, die die Nachbarn mit Deutschland verbinden, hat dieses Land auch etwas Ratselhaftes. Erleben wir wieder einen dieser Momente emotionalen politischen Wandels, wie nach der Katastrophe von Fukushima, als die deutsche Offentlichkeit sich selbst uberraschte und innerhalb weniger Tage einen neuen Konsens zur Atomenergie fand – ohne die langfristigen Folgen durchdacht zu haben?
Zeitenwenden sind rucksichtslose Momente
Wir sehen also politische Energie in Hulle und Fulle, in Deutschland und in Europa. Woran es fehlt, ist strategische Ruhe. Und das ist besorgniserregend. Der Twitter-Triumphalismus uber die offensichtlichen militarischen Fehler der russischen Armee ist verfruht.
Einen kuhlen Kopf zu bewahren, ist jetzt eine Frage von Leben und Tod. Absolute Prioritat hat die Abwendung der Gefahr eines Atomkriegs. Darauf zu beharren, dass Putin blufft, ist unverantwortlich. Diese Tatsache scheint nicht bei allen fuhrenden Politikern angekommen zu sein. An dem Tag, an dem die EU ihre Waffenlieferungen verkundete, stellte die Kommissionsprasidentin Ursula von der Leyen der Ukraine voreilig eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht. Selenskyj reichte prompt den offiziellen Antrag ein. Polen und andere osteuropaische Lander jubelten und die Mitglieder des Europaischen Parlaments applaudierten. Die etwas zogerlicheren Mitgliedstaaten schweigen oder sprechen von Verfahren und Zeitplanen, niemand mochte in diesem Augenblick den Ukrainern einen Hoffnungsschimmer nehmen.
>>Zeitenwenden<>langfristige Perspektive<>vielleicht eines Tages<< kontraproduktiv. Es ist tragisch, aber solche Erklarungen kommen im besten Fall zu fruh. Schlimmstenfalls werden sie ein weiteres falsches Versprechen sein. Der heute beginnende EU-Gipfel in Versailles darf fur die EU nicht das wiederholen, was der beruchtigte Gipfel in Bukarest im April 2008 fur die Nato war – als der Ukraine und Georgien schon einmal die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt wurde, obwohl klar war, dass sie nicht kommen wird.
Der ukrainische Prasident Selenskyj bei seiner Rede vor dem britischen Unterhaus
Foto: Office of President of Ukraine / picture alliance/ dpa
Und wie sollen wir uns das Ergebnis vorstellen: Die ehemalige Sowjetrepublik Ukraine tritt der EU bei, ohne gleichzeitig Mitglied der Nato zu werden? Letzteres wurde bedeuten, eine geopolitische rote Linie zu uberschreiten, damit wurde ein Atomkrieg zwischen Amerika und Russland zumindest riskiert. Doch wie sollte die EU die Ukraine ohne die USA aus den Fangen Moskaus befreien? Es gibt im EU-Vertrag eine Militarhilfeklausel, den Artikel 42.7, eine Art Gegenstuck zu Artikel 5 des Nato-Vertrages. Aber er ist nie erprobt worden. Georgien und die Republik Moldau, weitere Lander, die sich dem Zugriff Moskaus entziehen wollen, sind der Ukraine sofort gefolgt und haben ebenfalls einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt.
Wahrend der grossen Osterweiterung der Europaischen Union traten Polen und die anderen neuen Mitglieder immer zuerst der Nato bei, erst danach der EU. Fur einige (wie Polen) gab es eine Lucke von funf Jahren, fur andere (wie Slowenien) nur ein paar Wochen, aber die nukleare Sicherheitsgarantie kam aus gutem Grund immer vor dem EU-Beitritt. Das Gegenbeispiel waren Finnland und Schweden, die in der EU sind, aber ausserhalb der Nato (ebenso wie Osterreich, Irland und Zypern). Aber diese Staaten waren im Kalten Krieg neutral und lagen nicht hinter dem Eisernen Vorhang. Angesichts der russischen Bedrohung konnten nun auch Finnland und Schweden dem Bundnis beitreten wollen. Fur die Union konnte es dringlicher sein, die strategische Ambiguitat fur diese Mitglieder zu verringern (wenn sie dies wunschen), als sie fur alle gefahrlich zu vergrossern.
Europa muss realistisch werden
All das zeigt, dass dieser Krieg Europa in tiefe Probleme sturzt. Europa hat sich noch immer nicht von seiner strategischen Sorglosigkeit befreit. Wie sollte es auch anders sein? Das neue Denken in Begriffen von >>Macht<>Interessen<>Identitat<>Geschichte<>Geografie<< steht im grundlegenden Widerspruch zum traditionellen Selbstverstandnis Brussels als neutralem und offenen Raum. Die EU wurde einmal gegrundet, um Machtpolitik zu uberwinden, Grenzen und Mauern niederzureissen und nationale Rivalitaten zu entscharfen. Ihre Grunder sahen die Gemeinschaft als Vorhut des Weltfriedens, nicht als einen Akteur, der sich mit den anderen misst. Europa sollte ein moralisches Leuchtfeuer sein, das die Sprache der Werte spricht, freundlich und hochmutig zugleich. Diese Berufung wurde nach 1989 noch verstarkt: Europa war das Ende der Geschichte.
Jetzt, wo die Geschichte so brutal zuruckgekommen ist, wird es Zeit brauchen, diese Mangel zu korrigieren. Der blosse Ruf nach einer >>geopolitischen Kommission<>europaischer Souveranitat<< (wie es im deutschen Koalitionsvertrag steht) reicht nicht aus. Ebenso wenig wie die Lieferung von Waffen an Kiew. Die real existierenden Institutionen der EU sind uberfordert mit diesem Wandel. Ein Engel mit einem Schwert ist immer noch ein Engel.
Wenn Europa als eine Macht unter Machten auftreten will, die irgendwann sogar in der Lage ist, zerstorerische militarische Krafte zu befehligen, wird es eine andere politische Sprache brauchen, um uber sich selbst und seinen Platz in der Welt zu sprechen. Die Europaische Union wird ihr Ethos und ihr Auftreten andern mussen. Sie muss verstehen, dass sie dann nicht mehr der Engel ist, der den Kontinent und die Welt vom Bosen und der Tyrannei befreit – sondern ein sterblicher, strategischer und realpolitischer Akteur, der auch die Grenzen seiner Macht und seiner Zeit kennt.
In den kommenden Tagen, Wochen und Monaten wird eine entscheidende Frage lauten: Konnen wir die Koexistenz mit einem geopolitischen Gegner akzeptieren, sei es in Moskau oder Peking? Werden wir es schaffen, ihn nicht als den leibhaftigen Teufel zu sehen? Nicht zu versuchen, ihn zu zerstoren, um uns nicht (schon wieder!) in eine posthistorische Zukunft des universellen Friedens zu projizieren? Wird es gelingen, mit ihm als Rivalen umzugehen? Politisch gesehen ist das vielleicht der wahre Rubikon, den Europa uberschreiten muss.
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