Schon der Tagungsort hat Symbolkraft: Die Staats- und Regierungschefs der EU treffen sich am Donnerstag und Freitag auf Schloss Versailles. Laut einem Entwurf für das Gipfel-Kommuniqué, der dem SPIEGEL vorliegt, soll dort nicht nur das Ende der Abhängigkeit von russischen Gas-, Kohle- und Öllieferungen beschlossen werden.
Der jüngste Entwurf der Erklärung enthält auch – anders als eine frühere Version – einen Hinweis auf die Beistandspflicht der EU bei einem Angriff auf eines ihrer Mitglieder. Sollte die Passage auch in der finalen Version der Gipfel-Erklärung stehen, wäre das nach Ansicht von Diplomaten eine klare Warnung der EU an Russlands Präsident Wladimir Putin.
Man werde »weiterhin in unsere gegenseitige Hilfe unter Artikel 42 Absatz 7 investieren«, heißt es in dem Entwurf. Der Artikel des EU-Vertrags von Lissabon ähnelt dem besser bekannten Artikel 5 des Nato-Vertrags, der festlegt, dass ein Angriff auf ein Mitglied wie ein Angriff auf alle gewertet wird.
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Auch im EU-Pendant heißt es, dass im Fall eines bewaffneten Angriffs auf ein Mitgliedsland die anderen EU-Staaten »alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung« mobilisieren müssen. Allerdings steht jedem Land offen, ob es militärisch oder auf andere Art hilft. Die Beistandsklausel wurde nach den Terroranschlägen auf Frankreich im November 2015 zum ersten und bisher einzigen Mal eingesetzt.
Warnung an Moskau – und Geste an Washington
Allerdings gilt Artikel 5 der Nato als vorrangig: Sollte die Verteidigungsallianz den Bündnisfall ausrufen, wäre der EU-Artikel nicht mehr notwendig. Die ausdrückliche Erwähnung des Artikels 42 im Gipfel-Kommuniqué wäre deshalb vor allem eine symbolische Geste – nicht nur in Richtung Moskau, sondern wohl auch in Richtung Washington, um zu unterstreichen, dass die EU künftig deutlich mehr für ihre eigene Sicherheit tun will.
Letzteres geht auch aus anderen Passagen des Entwurfs hervor. Man wolle »weitere entschiedene Schritte zum Aufbau einer europäischen Souveränität gehen«, heißt es etwa. Dazu wolle man unter anderem die Verteidigungskapazitäten stärken, indem man in Fähigkeiten investiert, die nötig seien, um »die volle Bandbreite an Missionen und Operationen« durchzuführen. Auch die Rüstungsindustrie und der Schutz vor Cyberangriffen »insbesondere auf unsere kritische Infrastruktur« sollen gestärkt werden.
Zugleich will die EU bei der Energieversorgung eigenständiger werden. »Wir haben uns darauf geeinigt, unsere Abhängigkeit von russischen Gas-, Öl- und Kohleimporten auslaufen zu lassen«, heißt es in dem Entwurf der Abschlusserklärung. Dazu soll die EU die Nutzung fossiler Energien insgesamt zurückfahren und ihr Gas – das derzeit zu 40 Prozent aus Russland kommt – künftig verstärkt von anderen Lieferanten beziehen.
Streit über Antwort auf explodierende Energiepreise
Das alles soll vor allem eines signalisieren: Die EU ist angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine entschlossen, gemeinsam voranzugehen. Hinter den Kulissen aber gibt es auch Streit, vor allem um die Antwort auf die explodierenden Energiepreise.
Einige Mitgliedsländer – nach Diplomatenangaben vor allem Italien, Spanien und Griechenland – fordern eine Deckelung der Preise. Andere Länder, vor allem im Norden und Westen der EU, sind strikt dagegen. Ihr Argument: Die steigenden Preise für fossile Energien zwingen den Privatsektor, auf erneuerbare Energien umzuschwenken und sich schneller aus der russischen Abhängigkeit zu lösen. Eine Deckelung der Preise würde diesen Effekt wieder abschwächen. Eine sofortige Einstellung der Energieimporte aus Russland ist ohnehin vom Tisch – weil Kanzler Olaf Scholz klargemacht hat, dass er dagegen ist.
Der Energiepreis-Deckel sei »im besten Fall wahnhaft, im schlimmsten Fall gefährlich«, lästert ein Diplomat eines westlichen EU-Lands. Zu glauben, dass die hohen Preise auf diese Art verschwinden könnten, sei etwa so, »als würde man mit dem Auto auf eine Klippe zurasen, die Augen schließen und glauben, dann passiere nichts«.
Der wahre Preis von global gehandelten Gütern wie Öl und Gas bliebe trotz eines Deckels bestehen. Was oberhalb des Deckels liege, müsste trotzdem gezahlt werden – und zwar, so die Befürchtung der Kritiker, von Unternehmen und Steuerzahlern reicherer EU-Länder. Sie befürworten deshalb schnelle und massive Investitionen in erneuerbare Energien.
Die EU-Kommission sieht es ähnlich. Sie stellte am Dienstag die Pläne für eine größere Eigenständigkeit der EU in Sachen Energie vor – und zwar schnell. Schon bis Ende dieses Jahres ließe sich die Nachfrage der EU nach russischem Gas um zwei Drittel reduzieren, hieß es. »Deutlich vor 2030« soll die EU nach den Plänen der Behörde gar kein Gas mehr aus Russland importieren müssen – indem sie erneuerbare Energien schneller ausbaut und Gas stärker von den USA und Katar bezieht.