Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um das Völkerrecht sowie um verzweifelte Männer. Wir beschäftigen uns außerdem mit der katholischen Kirche und mit einem wunderbaren Biathleten.
Die Ukraine verklagt Putin
Das ist alles legitim, will uns Wladimir Putin weismachen. Der Überfall auf ein souveränes Land: legitim. Die Zerstörung der ukrainischen Städte: legitim. Das unfassbare Leid der Menschen: legitim.
Legitim soll das alles sein, weil der russische Angriff auf die Ukraine angeblich einen Genozid verhindern soll, einen Völkermord, den die Regierung in Kiew an der russischstämmigen Bevölkerung im Osten des Landes geplant habe. Interventionen, die einen Genozid verhindern können, sind nach dem Völkerrecht zulässig.
AdvertisementWladimir Putin
Foto: Mikhail Klimentyev / dpa
Nun fordert die ukrainische Regierung Auskunft darüber, wo die Beweise dafür sind. Sie fragt das heute anklagend vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, dem obersten Gericht der Vereinten Nationen. Morgen sollen sich die Russen dazu äußern.
Seit einiger Zeit behaupten sie, Massengräber mit russischstämmigen Menschen gefunden zu haben. Belastbare Beweise für einen Völkermord gibt es jedoch bislang nicht. Seltsam ist nur, dass ein Mann wie Putin, ein mörderischer Kriegsherr in der Ukraine, ein brutaler Unterdrücker des eigenen Volkes, den Eindruck verbreiten will, er handele legitim, im Einklang mit dem Völkerrecht.
Das können ihm nur Menschen glauben, die eine solche Behauptung brauchen, um einen Rest von schlechtem Gewissen auszuschalten. Putin selbst gehört wahrscheinlich nicht dazu.
Die Verzweifelten
Sehe ich Bilder von Ukrainern, die Molotowcocktails herstellen, denke ich mir dazu mal die Überschrift Heldentum und mal die Überschrift Wahnsinn. Ich bin Kind einer postheroischen Gesellschaft und kann mit Aufopferung wenig anfangen. Gleichwohl beeindrucken mich Mut und Entschlossenheit dieser Leute, ihr Land und ihre Lebensform zu verteidigen. Im Westen werden sie als Helden gefeiert.
Andererseits ist es Wahnsinn, eine Armee wie die russische mit Molotowcocktails anzugreifen. In Deutschland kannte man sie zuletzt eher als Waffe, die Berliner Polizisten zum 1. Mai einschüchtern (und verletzen) sollten. Selbst das ist nicht nachhaltig gelungen.
Menschen in der ukrainischen Stadt Lwiw bauen Molotowcocktails
Foto: OLEKSANDR KHOMENKO / imago images/UPI Photo
Was ist das Bild nach dem Bild von den Menschen, die Molotowcocktails herstellen? Sieht man russische Panzer auf dem Rückzug? Oder sieht man die Granatwerfer, Maschinengewehre, Panzer und Hubschrauber, die Menschen mit Molotowcocktails unter Feuer nehmen?
Ich sehe eher das zweite Bild. Und ich weiß, dass Ukrainer auch deshalb auf diese primitiven Waffen zurückgreifen, weil der Westen sie nicht ausreichend unterstützt. Gleichzeitig bin ich dagegen, dass die Nato in der Ukraine interveniert. Deshalb halte ich es persönlich für unpassend, diese Menschen als Helden zu feiern. Sie sind Verzweifelte, für deren Verzweiflung ich als Teil der westlichen Gesellschaft eine Verantwortung trage.
Das Mammut lebt
Eine Folge des Kriegs in der Ukraine ist, dass sich die alte Welt über die aktuelle stülpt. Man redet wieder über Nuklearwaffen, über die Wehrpflicht, über die Atomkraft als Ersatz für ausbleibende Gaslieferungen. Dazu gehört auch die Renaissance des Panzers.
In Deutschland war er das Mammut unter den Waffensystemen, schien zum Aussterben verurteilt, zu schwer und behäbig für die asymmetrischen Kriege in fernen Ländern, nicht geeignet für das schnelle, punktuelle Eingreifen.
Schützenpanzer PUMA, Handfeuerwaffen und Maschinengewehre in Munster (Archivbild)
Foto: Björn Trotzki; / imago images / Björn Trotzki
Nun sieht es so aus, als würde man das Mammut doch noch brauchen, zur Abwehr möglicher Angriffe russischer Truppen auf Nato-Gebiet. So wird der Medientag bei der virtuellen Übung der Panzergrenadierbrigade 37 in Wildflecken plötzlich zu einem relevanten Termin, der Aufnahme in den dpa-Tageskalender findet. Die Brigade wird 2023 Leitverband der Very High Readiness Joint Task Force der Nato. Da macht ja schon der Name zuversichtlich.
Immer noch Woelki
Ein Krieg wie dieser wirkt auf das Weltgeschehen wie ein gigantischer Staubsauger. Er lässt große Teile davon verschwinden. Corona – nur noch ein kleines Thema. Der Klimawandel – spielt kaum noch eine Rolle. Diese Morgenlage ist ein Abbild davon, mit einer Ausnahme, die hier stellvertretend für den großen Rest steht: Heute trifft sich die Deutsche Bischofskonferenz, das oberste Gremium der katholischen Kirche, zur Frühjahrsvollversammlung.
Rainer Maria Woelki
Foto: Oliver Berg / dpa
In meinen Augen hat sie ihr wünschenswertes Ziel verfehlt, wenn es nicht zu einer großen Entschuldigung bei den Missbrauchsopfern, zu einer radikalen Strukturreform und zu einem Abgang des Kölner Erzbischofs Rainer Maria Woelki kommt. Zwar hat er dem Papst seinen Rücktritt angeboten, wirbt aber gleichzeitig um Vertrauen in seinem Bistum. Das hat er verspielt, indem er Missbrauchsfälle in seinem Bistum nicht konsequent aufklären ließ. Die Kirche kann sich nur erneuern, wenn sie sich von Leuten wie Woelki löst.
Gewinner des Tages…
…ist Erik Lesser, ein deutscher Biathlet, der gestern Zweiter in der Verfolgung im Biathlon wurde. Schon das ist eine schöne Sache, zumal Lesser am Ende der Saison aufhören wird und sich mit diesem Erfolg bewiesen hat, dass er bis zum Schluss konkurrenzfähig ist, mit 33 Jahren.
Erik Lesser
Foto: IMAGO/Vesa Moilanen / IMAGO/Lehtikuva
Gewinner des Tages wird er aber, weil er der ukrainischen Biathletin Anastasiya Merkushyna für 24 Stunden seinen Account bei Instagram überlassen hat. Lesser erreicht nach eigenen Angaben 30.000 Follower in Russland. Von Merkushyna sollten sie »wirkliche Nachrichten bekommen«. Auf jeden Fall bekommen sie nun andere Nachrichten als von den russischen Medien.
Lesser hatte vor einigen Wochen auch einem russischen Biathleten geholfen, Eduard Latipow, der in Lessers Wohnort Oberhof positiv auf Corona getestet wurde. Der Deutsche brachte ihm Sportgeräte in die Unterkunft, damit sich Latipow in der Quarantäne fit halten konnte. Wären alle Männer mit Verfügung über Waffen so wie Lesser, hätte diese Welt weniger Probleme.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit