Wenn die Gewohnheit von der Wirklichkeit überholt wird, dann klingt das so: »Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.« So hat es Bundeskanzler Olaf Scholz vor einer Woche im Bundestag formuliert.
Zeitenwende, dieses Wort blieb hängen.
Der Krieg macht eine neue Politik nötig und, für einen kurzen Moment jedenfalls, in dem die Wucht der neuen Wirklichkeit noch wirkt, macht er eine grundsätzlich neue Politik auch möglich. Und Scholz hat mit seiner Regierungserklärung den Eindruck erweckt, er werde für diese neue Politik nun sorgen.
AdvertisementAber stimmt das eigentlich?
Wenn eine Zeitenwende bedeutet, dass Systeme in einen neuen Zustand geraten, dann ist eine Politik der Zeitenwende nicht einfach nur eine Fortsetzung der bisherigen Politik mit mehr Mitteln, sondern eine grundsätzlich andere Politik.
In welchen Fragen, die sich seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ganz neu stellen, zeichnet sich so eine grundsätzlich andere also Politik ab – und in welchen nicht?
Militär und Waffenlieferungen
Dass Scholz’ Satz von der Zeitenwende so schnell zur Formel wurde, liegt vor allem an diesen drei weiteren Sätzen seiner Rede:
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»Wir werden ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten.«
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»Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten.«
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»Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.«
Noch weiß niemand so ganz genau, welche Gestalt das Sondervermögen annehmen wird und wie sich die strukturellen Probleme der Bundeswehr beheben lassen, aber der Kanzler hat klargemacht, dass es ihm nicht um graduelle Veränderungen geht, nicht nur um mehr Geld, sondern um einen neuen Zustand.
Es endet eine Phase der militärischen Zurückhaltung. Schon vorher hatte die Regierung angekündigt, der Ukraine Panzer- und Luftabwehrraketen zu schicken. Deutschland liefert jetzt an eine Kriegspartei, weil die sich sonst nicht verteidigen kann.
Es endet damit auch eine Zeit der Distanz zur eigenen Armee.
Mit einer einzigen Rede schuf der Kanzler eine neue Verteidigungspolitik. Aus der Brunnenbauer-Bundeswehr mit flugunfähigen Helikoptern und unpräzisen Gewehren soll im Eiltempo eine kampffähige Truppe werden, weil aus dem für selbstverständlich gehaltenen immerwährenden Frieden eine akute Bedrohung geworden ist.
Geflüchtete und Integration
In einer schnellen Reaktion auf die Notlage hunderttausender Fliehender hat die EU erstmals ihren Notfallmechanismus aktiviert, um eine schnelle und unkomplizierte Aufnahme zu ermöglichen. Ukrainerinnen und Ukrainer, die in die EU kommen, müssen kein Asylverfahren durchlaufen. Sie bekommen sofort Schutz, sie dürfen arbeiten, sie werden sozialversichert.
Weder wird also der Grenzübertritt erschwert noch der Zugang zu Arbeit und Sozialsystemen. Insgesamt folgt die Flüchtlingspolitik in diesen frühen Tagen nicht der Idee, weitere Fliehende müssten abgeschreckt werden; sie wird von jenen Menschen her gedacht, die schon da sind, nicht von denen, die noch kommen könnten. Insofern handelt es sich europäisch aktuell um einen grundsätzlich neuen Umgang mit Flucht.
Andererseits gibt es diesen Mechanismus schon lange und er ist auf Zeit angelegt, als Ausnahme gedacht. Wenn gewünscht, kann er wieder ausgesetzt werden. Dann springt das System zurück in seinen vorherigen Zustand. So ist es vorgesehen.
Und dafür, dass sich ansonsten am System nichts ändern wird, spricht, dass sich bislang nichts im Umgang mit anderen Fliehenden aus anderen Konflikten ändert, aus anderen Ländern, an anderen Grenzen der EU.
Staatsfinanzen und Steuern
Noch laufen die Verhandlungen über das 100-Milliarden-Sondervermögen. Schon jetzt ist aber zweierlei klar: Erstens dient das Sondervermögen der Umgehung der Schuldenbremse. Zweitens bleibt die Schuldenbremse vorerst in Kraft. Sogar einen Tilgungsplan für das Sondervermögen soll es geben. Diese Gewissheit soll aufrechterhalten werden.
Auch eine zweite Gewissheit dieser Koalition, oder genauer: der FDP, blieb bisher unangetastet – von Steuererhöhungen ist nicht die Rede.
Während die Energiepreise in die Höhe schießen, während die Inflation schon nervöse Debatten beginnen lässt, während über ein neues Entlastungspaket wegen der Preissteigerungen nachgedacht wird, während eine von zwei Pandemiejahren und vermehrten Lieferkettenproblemen gebeutelte Weltwirtschaft in eine erneute Krise gestürzt wird, scheint die Politik der Zeitenwende Staatsfinanzen und Steuern überhaupt nicht zu berühren.
Russische Einflüsse
Die russische Regierung hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten systematisch den eigenen Einfluss ausgebaut. Durch Propagandamedien, Beteiligung von Staatskonzernen an westlichen Unternehmen, durch Lobbying und das Einkaufen von Menschen mit Einfluss, durch Netzwerke, die nicht mehr Verständnis, sondern bewusst Unverständnis geschaffen haben.
Von einer Politik der Zeitenwende ließe sich sprechen, würden diese Einflüsse systematisch identifiziert und zurückgedrängt (was etwas ganz anderes ist, als russische Restaurants zu bedrohen oder alle Russinnen und Russen in Haftung zu nehmen). Mit dem Ziel, zu vermeiden, dass Parteigänger eines Diktators künftig die öffentliche Debatte verzerren und diese Gesellschaft so erpressbar machen.
Danach sieht es derzeit nicht aus. Der Umgang mit Gerhard Schröder, dem Gaslobbyisten und Ex-Kanzler, macht das deutlich. Schröder steht seit Jahren treu zu Putin und lässt sich in stets neuen Posten von russischen staatsnahen Konzernen bezahlen. Die SPD-Spitze aber drängt und bittet Schröder beständig, sich doch noch loszusagen. Sie scheint auch nach mehr als einer Woche Krieg noch willens, ihn in ihren Reihen zu halten – als sei nicht längst klar, wo er steht.
Natürlich gibt es kleine Maßnahmen, die zu einer Politik der Zeitenwende passen: Das Verbot von russischen Staatssendern wie RT und Sputnik in der EU passt in dieses Muster. Dass mehrere Staaten nun schon Jachten von Milliardären beschlagnahmt haben, ebenfalls.
Andererseits stoßen diese Aktionen an Grenzen, weil sich die Systemgewinner und Systemträger Russlands in Steuerparadiesen hinter Briefkastenfirmen und Statthaltern verstecken können. Zeitenwende hieße: das System der Briefkastenfirmen und Statthaltern grundsätzlich zu hinterfragen. Davon ist nichts zu sehen.
Energie, Wärme, Klima, Verkehr
In seiner Regierungserklärung verknüpfte Scholz Rüstung und Energie zur Sicherheitsfrage und er versprach Maßnahmen zur Sicherung der Energiesicherheit.
Tatsächlich sichert auch die deutsche Abhängigkeit von fossilen Energieträgern derzeit die wichtigste Einnahmequelle des russischen Staates. Im nächsten Winter könnten schlimmstenfalls Millionen Deutsche im Kalten sitzen, wenn Putin dann das Gas abdreht. Abgesehen davon verfehlt Deutschland sowieso immer noch seine eigenen Klimaziele, die wiederum ohnehin schon am 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens vorbeigehen.
Gründe für eine schnelle Zeitenwendepolitik gäbe es also genug.
In der Rüstungspolitik nutzte er die Dramatik des Moments und die Schockerkenntnis, dass die Bundeswehr auf einen Krieg mit Russland nicht vorbereitet wäre, für einen grundlegende Richtungswechsel. Er schlug Pflöcke ein, er sicherte viel Geld, obwohl bisher nur ungefähr absehbar ist, wofür es ausgegeben werden wird.
In der Energiepolitik blieb all das aus. Scholz beließ es bei eher allgemeinen (schneller Ausbau der erneuerbaren Energien) und kleineren Ankündigungen (zwei Flüssiggasterminals bauen, nationale Gas- und Kohlereserve schaffen). Dass Kohle nun für ein paar Jahre wichtiger wird, vielleicht auch in Europa neu gefördert werden muss, dass über Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke geredet wird, sind die einzigen wirklichen Zeichen einer Zeitenwendepolitik.
Es wird natürlich mehr Geld für die Energiewende geben. Das Wirtschaftsministerium erarbeitet ein Maßnahmenpaket. Die Debatte läuft an.
Aber es gibt kein Sondervermögen Wärmewende. Es gibt keine Ankündigung, den Einbau von Gasheizungen in Wohnungen und Büros schnellstmöglich zu stoppen. Es gibt kein Sonderprogramm Wärmepumpe. Es gibt, weder im Bund noch in den Ländern, eine Absetzbewegung weg vom Auto (und den steigenden Spritpreisen) hin zum ÖPNV oder dem Fahrrad; keine autofreien Städte, keinen kostenlosen ÖPNV, kein Tempolimit gegen Putin.
Im Umgang mit fossilen Energien sieht es nach einer Fortsetzung der bisherigen Politik mit geringfügig mehr Mitteln aus. Eine Ökologie-Politik der Zeitenwende ist derzeit nicht in Sicht.