Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um Joe Bidens erste Rede zur Lage der Nation, um Wladimir Putins zynische Lüge von der angeblichen »Entnazifizierung« – und um Gerhard Schröders seltsame Sturheit.
Bidens Abrechnung mit Putin
US-Präsident Joe Biden hat seine erste Rede zur Lage der Nation zu einer Generalabrechnung mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin genutzt. Putin habe die Bemühungen untergraben, einen Krieg zu verhindern. »Putins Krieg war vorsätzlich und unprovoziert. Er lehnte Bemühungen um Diplomatie ab.« Putin habe gedacht, er könne den Westen spalten und die Nato würde nicht reagieren, sagte Biden. »Putin hat sich geirrt. Wir sind bereit.«
Ausdrücklich verteidigte Biden seinen Kurs, Russland mit harten Sanktionen zu treffen. »Wenn Diktatoren keinen Preis für ihre Taten zahlen, verursachen sie mehr Chaos. Sie machen weiter. Und der Preis und die Bedrohungen für Amerika und die Welt steigen weiter«, sagte Biden. Außerdem kündigte er neue Sanktionen an: Der US-Luftraum werde für russische Flugzeuge gesperrt.
AdvertisementDas Interessante an Bidens Rede und an den direkten Reaktionen im Saal: Neben seiner eigenen Partei stärken ihm auch die Republikaner bei diesem Auftritt den Rücken. Sie klatschen ausdrücklich bei allen Passagen, die die Ukraine und Russland betreffen. Amerikas Politiker zeigen demonstrativ eine Geschlossenheit, die man in Washington lange nicht erlebt hat.
Joe Biden (mit Vizepräsidentin Kamala Harris (l.) und der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi)
Foto: Jim Lo Scalzo / AP
Derweil läuft die russische Offensive in der Ukraine für Putin weiterhin nicht nach Plan. Die Ukrainer leisten erbitterten Widerstand. Aus dem US-Verteidigungsministerium hieß es, die russischen Truppen vor Kiew würden sich offenbar umgruppieren, dies deute auf eine neue Strategie hin. Es könnte versucht werden, die Stadt einzukesseln. Es werden auch verstärkte Bombardements erwartet.
Die Amerikaner wundern sich insgesamt über die offenkundigen Schwächen bei den russischen Streitkräften. So habe die russische Luftwaffe immer noch keine Luftüberlegenheit hergestellt, die ukrainische Luftwaffe könne weiterhin Einsätze fliegen. Möglicherweise scheuen die Russen den Luftraum, weil sie befürchten, von ukrainischen Raketen abgeschossen zu werden.
Hinzu kommen wohl erhebliche Probleme bei der Moral der russischen Truppen. Es gibt Berichte über Soldaten, die ihre Waffen niederlegen und sich ergeben, ohne zu kämpfen. Putins Leute haben zudem weiterhin Nachschubprobleme, es mangelt an Lebensmitteln, Treibstoff, Munition.
Unklar bleibt, ob es zu neuen Friedensgesprächen zwischen der ukrainischen Seite und einer russischen Delegation kommen wird. Die ukrainische Seite forderte, Russland müsse zunächst die Bombardierungen einstellen. Eine Schlüsselrolle bei der Suche nach einer diplomatischen Lösung könnte China zukommen. Außenminister Wang Yi soll gegenüber der ukrainischen Regierung seine Bereitschaft erklärt haben, sich dafür einzusetzen, den Krieg auf diplomatischem Weg zu beenden. Dagegen ist nichts zu sagen. So könnte sich Peking in dieser Lage endlich einmal nützlich machen.
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Putins zynische Nazi-Lüge
Unter den vielen Propaganda-Märchen, die Putin und sein Regime den eigenen Bürgerinnen und Bürgern auftischen, ist jenes von der angeblich notwendigen »Entnazifizierung« der Ukraine wahrscheinlich das Schlimmste. So irrwitzig wurden die Tatsachen selbst in der Sowjetunion selten verdreht. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der jetzt von Putins Häschern gejagt wird, ist Jude.
Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj
Foto: Sepp Spiegl / imago images/sepp spiegl
Zynisch ist das Ganze vor allem, weil bei Putins angeblicher Entnazifizierungs-Offensive nun ausgerechnet in der Kiewer Gedenkstätte Babyn Jar russische Raketen eingeschlagen sind. In der Schlucht von Babyn Jar erschossen 1941 SS-Mörder 33.771 Menschen, hauptsächlich Juden. Erst im vergangenen Sommer hatten an dieser Stelle Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Israels Präsident Isaac Herzog zusammen mit Selenskyj an einer Gedenkveranstaltung teilgenommen. Die russische Armee wollte einen Rundfunkturm zerstören, der direkt neben der Gedenkstätte steht. Dabei wurden wohl auch Teile der Babyn-Jar-Anlage getroffen.
Was treibt Putin dazu, seine Lügen zu verbreiten? Nun, vermutlich kommt das Märchen vom heroischen Kampf russischer Soldaten gegen angebliche ukrainische Neonazis bei einigen Putin-Fans gut an. Sonst würde er nicht darauf zurückgreifen. Er braucht eine Rechtfertigung für seinen Krieg. Und die Nazi-Geschichte klingt irgendwie nach einer Neuauflage des »Großen Vaterländischen Krieges« gegen Nazi-Deutschland. Der Unterschied ist nur: Damals führte Russland tatsächlich einen gerechten Krieg. Diesmal nicht.
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Sturkopf Schröder
Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder hat schon viele politische Schlachten geschlagen, einige hat er gewonnen, einige verloren. Er hat ein dickes Fell oder besser gesagt, eine Hornhaut wie Beton, weshalb er bislang an seinen Russlandposten bei diversen Firmen festhält. Auch die Männerfreundschaft mit Wladimir Putin will er offenbar nicht beenden. Wie lange wird Schröder noch stur bleiben?
Ex-Kanzler Gerhard Schröder
Foto: Kay Nietfeld / dpa
Das Entsetzen über ihn ist groß. Der Schweizer Ringier-Verlag beendete die Zusammenarbeit mit Schröder nach 15 Jahren. Mitarbeiter in seinem Altkanzlerbüro in Berlin lassen sich versetzen. In der SPD rumort es. Erste Ortsvereine strengen Parteiordnungsverfahren an. Parteichef Lars Klingbeil drohte in der Fraktionssitzung mehr oder weniger direkt mit Konsequenzen: »Der Ball liegt bei Gerhard Schröder. Die Uhr tickt.«
Alle gegen Schröder: Das ist eine Position, aus der er sich schon häufiger herausgekämpft hat. Dafür haben ihn viele Menschen bewundert. Zum Beispiel bei seinem Nein zum Irakkrieg. Doch diesmal ist es anders: Den richtigen Zeitpunkt zur Abkehr von Putin hat Schröder längst verpasst. Nun wird der Makel, in diesem wichtigen Moment auf der falschen Seite der Geschichte gestanden zu haben, für immer an ihm haften bleiben.
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Deutschlands sicherheitspolitische Wende: Um kurz nach drei liegt der Bündnisfall auf dem Tisch
Gewinner des Tages…
… ist unser eigener Berufsstand. Die Journalistinnen und Journalisten, die derzeit aus der Ukraine berichten, versuchen, die Weltöffentlichkeit so gut es unter diesen schwierigen Umständen geht, über das Geschehen auf dem Laufenden zu halten. Dazu gehört viel Mut. Internationale TV-Sender wie CNN berichten rund um die Uhr live aus dem Krisen- und Kriegsgebiet. Der SPIEGEL ist derzeit mit fünf Reporterinnen und Reportern vor Ort. Und natürlich sind da die vielen ukrainischen Kolleginnen und Kollegen, die den Kampf ihrer Landsleute gegen die russische Invasion oft direkt an der Frontlinie dokumentieren.
Einmal mehr zeigt sich, wie wichtig eine unabhängige und freie Presse ist. Ohne leidenschaftliche Journalistinnen und Journalisten, die berichten, was sie sehen und erleben, würde vieles, was gerade passiert, hinter einer Nebelwand aus Falschinformationen und Propaganda verborgen bleiben.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Roland Nelles