Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Kiew: Wo verlaufen die Fronten?
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Berlin: Was wird aus dem 100-Milliarden-Euro-Beschluss?
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Washington, Warschau, Berlin, Paris: Droht ein Weltwirtschaftskrieg?
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1. Wo verlaufen die Fronten?
Noch immer lassen sich auf Karten die Ausbuchtungen jener Gebiete betrachten, die bereits unter »russischer Kontrolle« stehen. Diese Bereiche wurden in den ersten Tagen – aus Sicht des Kreml – allzu langsam größer, dort liefen die Russen gegen eine »Mauer«, mit der sie laut Joe Biden nicht gerechnet hatten, nämlich das »ukrainische Volk«. Da will niemand »befreit« werden. Und nun bekommt das ganze Land die Wut von Putin zu spüren.
In der Hafenstadt Mariupol am Asovschen Meer nordöstlich der Krim sollen allein 100 Einwohner durch Beschuss verletzt worden sein, Raketen schlagen auch in Charkiw und Kiew ein. Die Großstadt Schytomyr westlich von Kiew erfährt gerade Beschuss durch Marschflugkörper – vermutlich, weil sie bisher noch einer Einkesselung der Hauptstadt im Wege ist.
Generell scheint der Aggressor gegenwärtig seine Lufthoheit auszuspielen, und das auf Kosten der Zivilbevölkerung. Von einem sauberen Krieg hat man noch nicht gehört, dieser wird offenbar besonders »schmutzig« mit Thermobarischen Waffen und Clustermunition geführt.
Was genau der belarussische Präsident Lukaschenko treibt, weiß nur er allein. Offiziell hat er »taktische Bataillone« an die Grenze zur Ukraine entsendet, »zum Schutz« – vermutlich vor einer ukrainischen Armee, die in ihrer Freizeit danach trachtet, ein unbescholtenes Nachbarland anzugreifen. Entschuldigen Sie den Sarkasmus. Sarkasmus ist der erste Profiteur des Krieges.
Die Türkei weist unterdessen den russischen Antrag auf Durchfahrung der Meerenge am Bosporus zurück. Finnland schickt Waffen, statt sich erneut zu »finnlandisieren«. Und bei seinem Antrittsbesuch in Israel sprühte immerhin Bundeskanzler Olaf Scholz ein wenig Löschschaum ins Feuer und erklärte ein militärisches Eingreifen für ausgeschlossen: »Das gilt für die Nato, das wird sie nicht tun, und auch für alle anderen. Das wäre in dieser Situation falsch«.
Stattdessen bereiten sich die entsprechenden Länder darauf vor, die zu erwartende humanitäre Katastrophe wenigstens ein wenig abzufedern. Allein in Deutschland sind bis jetzt 5300 Kriegsflüchtlinge eingetroffen.
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2. Was wird aus dem 100-Milliarden-Euro-Beschluss?
Genau, 100 Milliarden für den Etat der Bundeswehr. Das ist eine Summe, die man erst einmal »sacken lassen muss«, denn da sackt dann allerhand. 100 Millionen Euro sind bereits eine unvorstellbare Summe, aber dafür bekäme man nur einen einzigen Eurofighter. Für 100 Milliarden aber könnte die Luftwaffe sich eine Flotte aus genau 100 Tarnkappenbombern vom Typ B2 zulegen, dem teuersten Luftfahrzeug aller Zeiten. Aber wozu die Tarnkappe, wenn, wie wir in der Ukraine sehen, Gemetzel auch vor den Augen der Welt abgehalten werden können?
Woher kommt das Geld? Das weiß nur Finanzminister Christian Lindner, dessen Partei die Bundeswehr gerne besonders »schlagkräftig« machen würde. Der Ankündigung dieser astronomischen Aufstockung zum Trotz will Lindner, der alte Sparfuchs, an der Schuldenbremse festhalten. Schließlich war bisher auch leider, leider, leider kein Geld da für, sagen wir, Soziales? Und nun diese Summe?
Für Lindner ist das nicht unmöglich. Und wenn es das ist, sagt er es nicht, sondern nennt die kommenden Haushaltsverhandlungen im Lichte aktueller Entwicklungen »noch ambitionierter«, als sie es ohnehin schon gewesen wären.
Und die SPD so? Nach Jahrzehnten der Zurückhaltung auf dem Feld der Bellizistik war es da lange verdächtig ruhig. Jetzt nicht mehr. Die Linkssozialdemokraten vom »Forum Demokratische Linke« (DL21) lehnen die Aufrüstungspläne ab. Im entsprechenden Papier der radikalen Splittergruppe (Sarkasmus und Krieg, wir erinnern uns!) wird ein »beispielloser Paradigmenwechsel« beklagt, »dem wir uns vehement entgegenstellen«.
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3. Droht ein Weltwirtschaftskrieg?
Interessant ist schon, wie sehr manche Menschen an den Lippen westlicher Milliardäre hängen und ihren Einfluss (etwa auf das Grundwasser in Grünheide, die bemannte Raumfahrt oder, hüstel, die Politik) für eine gute Sache halten – während östliche Milliardäre stets schurkische Oligarchen sind. Leute eben, die derzeit hektisch ihre 30-, 40- oder 50-Meter-Jachten aus schönen Häfen in sichere Häfen verfrachten.
Besonders schöne Häfen gibt es in Frankreich (z.B. Saint-Tropez, Antibes oder Cannes), dessen Finanzminister Bruno Le Maire per Twitter einen »totalen Wirtschafts- und Finanzkrieg« gegen Russland in Aussicht gestellt hat – nur um bald darauf zurückzurudern. Im Kern geht es aber durchaus darum, Putin und seine Clique zu treffen. Ein wenig auch Otto Normalrusse, wie umgekehrt auch Martina Mustermann von steigenden Energie- oder Brotpreisen etwas merken wird. Der Gaspreis war zeitweilig auf einem Rekordhoch.
Gesperrte Häfen und gesperrte Lufträume sind eine Sache, gesperrte Konten eine andere. Davon betroffen wären auch »normale Menschen«. Sieben russische Geldinstitute sind bereits vom Informationssystem Swift »abgeklemmt« worden, wie es heißt, als wären hier Klempner unterwegs. Hand aufs Herz: Wer kennt schon seine BIC-Nummer auswendig? Eben.
Ein Roman Abramowitsch (Jachtlänge: 140 Meter!) aber ganz bestimmt. Der Oligarch will sogar seinen Fußballverein verkaufen, verlangt allerdings derzeit für den FC Chelsea noch »viel zu viel«. Das muss kein schlechtes Zeichen sein.
Ein eher schlechtes Zeichen ist, dass Siemens seine Aktivitäten auf dem russischen Markt einstellt – weil Siemens normalerweise mit Diktatoren ganz normale Geschäfte macht.
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Kardinal Woelki bietet Papst Amtsverzicht als Kölner Erzbischof an: Kardinal Rainer Maria Woelki hat dem Papst nach eigenen Worten seinen Amtsverzicht angeboten. Franziskus werde zu gegebener Zeit darüber entscheiden, teilte das Erzbistum Köln mit.
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Forscher stellen Zusammenhang zwischen Nervenschäden und Long Covid fest: In einer kleinen Studie wurden Long-Covid-Patienten mit Symptomen untersucht, die auch bei einer Nervenschädigung auftreten können. Bei 60 Prozent waren kleine Nervenfasern betroffen – die vor der Infektion gesund gewesen waren.
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Krankenkasse entlässt Vorstand: Ein Gesundheitsmanager will in Abrechnungsdaten einen Skandal über Nebenwirkungen von Coronaimpfungen entdeckt haben. Ärztevertreter haben ihn entkräftet – sein Arbeitgeber zieht nun die Konsequenzen.
Meine Lieblingsgeschichte heute …
… ist das, was man im Journalismus gerne etwas abfällig einen »Besinnungsaufsatz« nennt, einen Essay, also den Versuch meines Kollegen Tobias Rapp, endlich mal seine Ansichten zum Umgang europäischer Länder, darunter Deutschland, mit Russland aufzuschreiben. Dieser Versuch ist gelungen, wovon geneigte Leserinnen und Leser sich bitte selbst überzeugen mögen.
Es handelt sich um eine ziemlich konzise Abrechnung mit der Hoffnung auf eine »Vernetzung, die überall auf der Welt neue Märkte eröffnete, und von einer Weltordnung, die auf wundersame Weise wirtschaftliche Dynamik und politische Stabilität zu verbinden schien«. Aber lief es denn nicht gut so? Es lief sogar so gut, schreibt Rapp, »dass sich viele einredeten, so werde es immer bleiben, und viele sich nicht einmal vorstellen konnten, dass diese Welt trotzdem noch auf Interessen und Macht ruht«. Es ist kein ungrämlicher Text, in dem Tobias Rapp zusammenfasst, womit er seinen Kolleginnen und Kollegen seit Jahren schon die globalisierungsselige Laune trübt. Man wünschte, er hätte nicht immer schon recht gehabt.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Deutscher Umgang mit Putin – Verklärt, verlogen, verloren
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Wie realistisch sind Putins Atomdrohungen?: Der Krieg in der Ukraine läuft für Wladimir Putin bisher überraschend schlecht. Westliche Experten schließen inzwischen nicht mehr aus, dass Russlands Präsident versuchen könnte, den Konflikt mit Nuklearwaffen zu entscheiden.
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So wurde Putin, wie er ist: Klang Russlands Präsident nicht vor 20 Jahren noch brav und versöhnlich? Unser Autor beobachtet Wladimir Putin seit Jahrzehnten und sagt: Seine Kehrtwende, die manche im Westen sehen, hat es in Wahrheit nie gegeben.
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Wenn Gangster über Stress bei der Arbeit jammern: Die russische Gruppe Conti zählt zu den gefürchtetsten Online-Erpressern weltweit. Jetzt geben Zehntausende Chatnachrichten Einblicke in ihren Alltag – in dem wohl auch der Geheimdienst FSB eine Rolle spielt.
Was heute weniger wichtig ist
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Scarlett Johansson, 37, war »definitiv« und »in mancher Hinsicht« von ihrer eigenen Schwangerschaft »begeistert«, hatte dabei aber auch »einige nicht so großartige Gefühle«. Die nicht so großartigen Gefühle präzisierte die Schauspielerin (»Black Widow«, »Marriage Story«) gegenüber der Zeitschrift »Vanity Fair« damit, dass auch ihr weiteres Umfeld in mancher Hinsicht von ihrer Schwangerschaft (im vergangenen August war Niederkunft, der Sohn heißt Cosmo und ist sehr süß) teils begeistert war, teils nicht so großartige Gefühle hatte: »Ich wollte meine eigenen Gefühle über meinen sich verändernden Körper haben, ohne dass andere Leute mir sagen, wie sie mich wahrnehmen, positiv oder negativ.« Dieses »Beurteilen« nannte sie völlig zurecht »verrückt«. Wenn man die Finger von Twitter oder Instagram lässt, müsste es sich aber aushalten lassen.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Konzept, Drebuch und Regie kommen vom ›Mr. Robot‹-Macher Sam Esmail.«
Cartoon des Tages: Rüstungs-AG
Foto:
plassmann / Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
An diesem kühlen Abend könnte man, weil man das ja seit einer Weile wieder kann, im Sessel eines Lichtspieltheaters Platz nehmen und »The Batman« gucken. Über die Sehnsucht nach »moralischer Übersichtlichkeit und Eskapismus«, die auch dieser Blockbuster (nein, »Blockbuster« war im Zweiten Weltkrieg die Bezeichnung für Luftminen, sagen wir also lieber schlicht: Film) bedient, hat mein Kollege Andreas Borcholte schon geschrieben.
Diesmal gibt Robert Pattinson, den jüngere Mädchen unter uns noch als erotischen Blutsauger aus der »Twilight«-Saga kennen, den verstörten US-Oligarchen ohne Jacht, aber mit Sinn für Gerechtigkeit. Pattinson spielt den Helden mit leicht queerer Note (das schwarze Make-Up unter der Maske), aber mit heterosexuellen Neigungen zu Catwoman (»Ich hab’ was übrig für Streuner!«). Zwar lassen sich hier Gut und Böse lange nicht sauber auseinanderhalten, dafür tragen alle Beteiligten kinky Kostüme.
Ich wünsche Ihnen gute Unterhaltung und einen friedlichen Abend. Herzlich
Ihr Arno Frank
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