Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Kiew: Was ist die Lage im Osten?
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Rostock: Was wird aus Nord Stream 2?
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München, Berlin, Rostock, Hannover: Plötzlich auf der falschen Seite?
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1. Wie ist die Lage im Osten?
Das Verstörende an der »Lage im Osten« ist selbst für Menschen, die dieser Lage nicht ausgesetzt sind, die nackte Brutalität dessen, wofür zu interessieren wir uns genötigt sehen. Es verstört das Interesse am Verlauf einer Frontlinie, an der Zahl der Opfer, an Schilderungen vom Standhalten oder Scheitern. So sehr, dass die Beschäftigung mit der Situation der Geflüchteten in Polen, der Slowakei beinahe etwas Beruhigendes hat – die wenigstens sind in Sicherheit!
Von der anderen Seite der Grenze jedenfalls ist zu berichten, dass Kiew und Charkow noch immer nicht eingenommen sind. Erstens haben die Invasoren nicht mit einem solchen Widerstand gerechnet, zweitens wissen angeblich viele russische Wehrpflichtige nicht einmal, wo sie da hineingeraten sind. Ein Umstand, den sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi mit unkonventionellen Methoden zunutze machen will: 40.000 Euro für jeden Deserteur.
Mit einer Rede vor dem EU-Parlament wiederum forderte Selenskyi, der allseits behaupteten »Solidarität« (selbst die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen trug einen Anstecker in den ukrainischen Farben gelb und blau) sollten handfeste Beweise folgen: »Wir wollen unsere Kinder leben sehen!«. Apropos »Kinder«: In Deutschland fordern unterdessen bereits Politiker von Union bis SPD eine Wiedereinführung der Wehrpflicht – die vermutlich eben jene Heranwachsenden betreffen wird, die die vergangenen zwei Jahre in sozialer Isolation verbracht haben (Corona, wir erinnern uns).
Es wird nun aber leider die Ausbildung an und die Instandhaltung von neuen Waffen erst in die Wege geleitet werden müssen, wie der Politikwissenschaftler Hans-Henning Schröder meiner Kollegin Susanne Koelbl erläutert hat. Und dafür braucht man: Soldatinnen und Soldaten.
Die Frage, ob die Ukraine überhaupt eine Chance hat gegen die russische Militärmaschinerie, beantwortet Schröder eher nüchtern: »Mittelfristig nicht«.
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Lesen Sie hier mehr: Kiew will Kremltruppen mit Geldgeschenk zur Aufgabe bewegen
2. Was wird aus Nord Stream 2?
Erst eine Woche im Krieg, und schon hat Putin eine ganze Reihe von Erfolgen erzielt. Europa geeinigt, Schweden und Finnland enger an die Nato gerückt, die Schweiz aus der traditionellen Neutralität geküsst, den ebenso traditionell zerstrittenen Griechen und Türken einen gemeinsamen Feind beschert (Putin) – sowie, in Deutschland, das bisher utopische Ziel einer zu 100 Prozent auf Ökostrom basierenden Energiewirtschaft in greifbare Nähe gerückt.
Vorher war, wir erinnern uns, die Gas-Pipeline in der Ostsee laut Bundeskanzler Olaf Scholz angeblich ein »privatwirtschaftliches Unternehmen« und damit völlig unpolitisch. Inzwischen hat sich eine der Hauptschlagadern der deutschen Energieversorgung zu einem Politikum erster Güte entwickelt, von dem beinahe alle Beteiligten sich kaum schnell genug distanzieren können.
Um sich vor möglichen US-Sanktionen zu schützen, hatte etwa die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), alle Nord Stream 2 betreffenden Angelegenheiten in eine euphemistisch »Klimastiftung« genannte Konstruktion überführt, die von solchen Sanktionen ausgenommen wären. Die neue Lage (im Osten) führt nun dazu, dass Schwesig bewusste Stiftung gerne auflösen würde. Während – weil keine Angestellten braucht, was nicht in Betrieb gehen wird – der Betreiber der Pipeline allen 140 Mitarbeitern gekündigt hat.
Was, alles in allem, in einer neuen europäischen Energiepolitik münden muss, wie, vermutlich nicht nur mit Blick auf die Beschäftigten, der Vorsitzende der Gewerkschaft IG Bergbau, Chemie, Energie (Michael Vassiliadis) gefordert hat.
Kurzum: Aus Nord Stream 2 wird nichts. Ob Elon Musk für sein »Hyperloop«-Projekt wohl Verwendung für eine Unterwasserröhre zwischen Russland und Deutschland haben könnte?
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Lesen Sie hier mehr: Betreiber von Nord Stream 2 entlässt alle Angestellten
3. Plötzlich auf der falschen Seite?
Das erste Opfer des Krieges ist bekannt, die weiteren Opfer auch – und dann gibt es noch jene, die den Krieg entweder nicht haben kommen sehen oder aber, schlimmer noch, im Grunde gar nichts dagegen haben. So wie der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, Waleri Gergijew. Die 68-jährige Künstlerseele hatte 2014 einen Aufruf für die Annexion der Krim unterschrieben – und sich nicht vom Angriff auf die Ukraine distanzieren wollen. Nun hat sich München von ihm distanziert, weitere Stars vor allem der staatsnahen Klassik werden vermutlich folgen.
Während die AfD intellektuell noch nicht einmal dazu in der Lage ist, tobt in der Linken immerhin ein Streit über den richtigen Kurs, angezettelt von Gregor Gysi. Der zeigte sich »entsetzt« über die »völlige Emotionslosigkeit« einer Erklärung, mit der Parteikollegen wie Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst, Sevim Dagdelen, Andrej Hunko, Sören Pellmann, Zaklin Nastic und Christian Leye die Schuld am Krieg – wie üblich – bei den »bösen« (Gysi) USA und der »bösen« (Gysi) Nato verorteten. Wagenknecht antwortete via Twitter, sie sei ihrerseits über Gysi »entsetzt«. Entsetzen allenthalben.
Wie in Kultur und Politik, so auch in der Privatwirtschaft – oder im Privatleben mit seinen partikularen Sonderinteressen. Über den Putin-Freund Gerhard Schröder aber decken wir gnädig das weiche Laken des Schweigens.
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Lesen Sie hier mehr: München entlässt Chefdirigent der Philharmoniker
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Was heute sonst noch wichtig ist
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300.000 Menschen sollen sich für Evakuierung bereit machen: Australien stehen nach den Überschwemmungen im Osten neue Stürme bevor. In Sydney könnte innerhalb von sechs Stunden mehr Regen fallen als sonst im gesamten Monat März. Die Zahl der Toten steigt.
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Teenager twittert Flüge von Oligarchenjets: Elon Musk soll ihm 5000 Dollar geboten haben, damit er aufhört, die Flüge seiner Privatjets zu twittern. Nun hat Jack Sweeney neue Ziele: Er veröffentlicht, wo die Maschinen von russischen Superreichen fliegen.
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Fassadenteile bei baugleichen Häusern werden entfernt: Man wolle den Bewohnern »Befürchtungen« nehmen: In Essen werden nach dem Großbrand eines Wohnkomplexes »Vorsichtsmaßnahmen« bei baugleichen Häusern getroffen.
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An Omikron verstorben – oder mit?: Die Coronatodesfälle steigen in Deutschland wieder. In vielen Fällen könnte Covid-19 nur eine Nebendiagnose sein. Wie häufig dies vorkommt, weiß niemand genau: Viele Bundesländer erfassen die Daten nicht systematisch.
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Inflation zieht wieder auf 5,1 Prozent an: Die Inflation in Deutschland ist nach einem leichten Rückgang zu Jahresbeginn wieder über die Marke von fünf Prozent gestiegen, vor allem wegen höherer Energiekosten.
Meine Lieblingsgeschichte heute…
… ist, zugegeben, auch nicht gerade ein Feel-Good-Stück, aber wichtig. Mein Kollege Johann Grolle hat ein großes, ein kundiges und leider eben deshalb vermutlich auch etwas deprimierendes Stück über die Verschmutzung des Planeten mit Plastik geschrieben. Nicht nur überwiegt neuerdings künstlich hergestelltes Menschenwerk nach Gewicht inzwischen sämtliche Biomasse auf der Erde. Es wandern auf Erdöl basierende Kunststoffe auch allmählich die Nahrungskette hinauf. Und wer steht da wohl an der Spitze?
Technische Lösungen des Problems stecken noch in biologisch abbaubaren Kinderschuhen. Und fraglich ist, wie immer, »ob sich ein Markt für sie findet«. Offenbar kann aber mit einem globalen Abkommen zur Eindämmung von Plastikmüll gerechnet werden.
Grolle selbst erreichte ich unterwegs, an der Elbe mit seinem Hund. Die Leine sei nicht aus Kunststoff, versichert er. Und dann, nach kurzem Nachdenken: »Aber die Tüten, mit denen ich den Kot einsammele …«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Mehr Kunststoff als Tier auf der Erde
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Fehlende Kabel – deutschen Autobauern droht Produktionsstopp: VW steht vor massiven Ausfällen: Wichtige Kabelstränge aus der Ukraine können nicht geliefert werden. Nach SPIEGEL-Informationen sind auch BMW und Mercedes-Benz betroffen – und es ist nicht das einzige Problem.
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»Das würde bedeuten, dass Putin geistig nicht zurechnungsfähig ist«: Russlands Armee stockt, der Kremlchef hat Nuklearstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Hier erklärt der ehemalige US-Verteidigungsstaatssekretär William Wechsler, welche Szenarien nun wahrscheinlich sind.
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»Die Bundeswehr muss eine der schlagkräftigsten Armeen in Europa werden«: Die Ampel plant nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine eine Aufrüstung der Armee. Hier begründet der designierte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai die Wende – und spricht über weitere Waffenlieferungen.
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Elf Lobbyisten für jeden Abgeordneten: Erstmals erfasst ein Lobbyregister, wer gegenüber Bundestag und Regierung für Interessen wirbt. Es enthält prominente Namen – und bemerkenswerte Verbindungen.
Was heute weniger wichtig ist
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Schauspieler werden gerne mit den Rollen verwechselt, die sie spielen. Ryan Reynolds immerhin kann das nicht passieren. Dem Sender CBS vertraute er nun an, »schon mein ganzes Leben lang Angstzustände« zu haben. So hat der Star aus »Green Lantern« oder »Red Notice« vor einem Auftritt in der Show von David Letterman gedacht: »Ich werde sterben. Ich werde hier buchstäblich sterben. Der Vorhang wird sich öffnen und ich werde einfach nur eine Sinfonie aus Erbrochenem sein«. Tatsächlich war er dann keine »Sinfonie aus Erbrochenem«, nicht einmal ein Liedchen – sondern einfach nur Ryan Reynolds, hochbezahlter Hollywood-Star. Der 45 habe »das Gefühl, dass meine Persönlichkeit zwei Teile hat, von denen einer die Oberhand gewinnt, wenn das passiert«. Für eine Rolle in »Hulk« wurde er aber noch nicht angefragt.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »US-Astronaut Vande Hei mit russixschen Kollegen im Training«
Cartoon des Tages: Gerhard Schröder auf Friedensmission?
Foto: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Diesen Abend könnte man ausnahmsweise mal ganz ohne Sondersendungen verstreichen lassen, ohne Internet, selbst ohne Buch. Einfach mal rumsitzen und nichts machen, in stiller Freude auf den nächtlichen Sternenhimmel. Gegen fünf Uhr am Morgen nämlich wird die Venus am Firmament erscheinen, in flachen Gegenden bei freiem Himmel gut am Horizont zu erkennen. Etwa eine halbe Stunde darauf wird sich der Mars zu ihr gesellen, wie immer leicht rötlich und relativ nahe unterhalb der Venus, die, wie für die Liebe üblich, den kriegerischen Kollegen mit ihrem weißen Strahlen in die Schranken weisen wird. Ein schönes Bild. Noch schöner ist nur, dass beide Gesellen gemeinsam nach Westen wandern. Und dann irgendwann auch die Sonne wieder aufgeht.
Ich wünsche Ihnen gute Unterhaltung und einen friedlichen Abend. Herzlich
Ihr Arno Frank
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