Dick eingepackt und mit einer regenbogenfarbenen Maske, die er über seiner FFP2-Maske trägt, steht Timo Gößler, 43, an der Siegessäule. Der Drehbuchautor hat »das dringende Bedürfnis, etwas zu tun gegen diesen fürchterlichen Krieg«, und sei es nur, dafür auf die Straße zu gehen. Diese Demo werde ihn garantiert nicht beenden, und doch sei es ein wichtiges, deutliches Zeichen an die Welt.
Etwas tun zu können, und sei es nur symbolisch – dieser Wunsch verbindet viele der Zehntausenden Menschen, die an diesem Sonntagnachmittag zwischen der Siegessäule und dem Brandenburger Tor auf die Straße des 17. Junis strömen, um gegen Putins Krieg zu demonstrieren. Zur Demonstration unter dem Motto »Stoppt den Krieg! Frieden für die Ukraine und ganz Europa« hatte ein Bündnis aus Friedens-, Menschenrechts- und Umweltschutzorganisationen sowie Kirchen und Gewerkschaften aufgerufen. Ursprünglich waren die Organisatoren von 20.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausgegangen.
Demonstration am Bundestag in Berlin
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Foto: bildgehege / imago images/Bildgehege
»Wir sind völlig überwältigt von dieser Anteilnahme. Anfangs hatten wir nur eine Menschenkette mit mehreren Tausend geplant. Dass es Hunderttausende werden würden, sogar die öffentlichen Verkehrsmittel zusammenbrechen, damit haben wir nicht gerechnet«, sagt Christoph Bautz, Mitinitiator und Geschäftsführer der Kampagnen-Plattform Campact dem SPIEGEL. Durch die Demo wolle man die »Breite der deutschen Zivilgesellschaft zusammenbringen«. »Und wir richten uns an die Bundesregierung, denn es braucht jetzt harte Konsequenzen«, so Bautz.
Konsequenzen hat die Regierung dann auch am Vormittag angekündigt – in einer Regierungserklärung während einer Sondersitzung des Bundestags. Von nichts Geringerem als einer »Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents« sprach Olaf Scholz in einer wohl historischen Rede, in der er Russlands Präsident Vladimir Putin einen »menschenverachtenden und kaltblütigen Angriffskrieg gegen die Ukraine« vorwarf, der »durch nichts und niemanden zu rechtfertigen sei.« Deutschland stehe heute an der Seite der Ukraine, genauso wie es auf der Seite all jener stehe, die Putins Machtapparat die Stirn böten. »Wir wissen, sie sind viele.« Alle, die sich in Berlin und anderswo zu friedlichen Kundgebungen versammeln, würden damit »in diesen Tagen ein Zeichen setzen: gegen Putins Krieg«, für ein freies und offenes, gerechtes und friedliches Europa. Auch in Frankfurt am Main, München, Stuttgart und vielen weiteren deutschen Städten sind am Wochenende Zehntausende auf die Straße gegangen, um Solidarität mit der Ukraine zu bekunden.
Über eine Minute Stille im Gedenken an die Opfer des Krieges
Kurz vor 14 Uhr rufen die Organisatoren die Menge auf der Straße des 17. Juni auf, innezuhalten – im Gedenken an die Opfer des Krieges in der Ukraine, den Kreml-Chef Wladimir Putin am 24. Februar so brutal angeordnet hatte. Schneidende Stille, nur das Zwitschern der Vögel an diesem klaren Wintertag ist zu hören, über eine Minute lang.
Mehr als eine Minute dauerte auch der Beifall der Abgeordneten im Bundestag an, als Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk begrüßte. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck umarmte ihn. Eine weitere wortlose Geste an diesem schneidend klaren Sonntag.
»Ich bin hier, um Solidarität zu zeigen«, sagt die 20-jährige Jule
Foto: Serafin Reiber / DER SPIEGEL
Der Stille auf der Straße des 17. Juni vorausgegangen war der Song »Grenzen« der Liedermacherin Dota Kehr. »Ich suche das Land, in dem jeder den anderen in Staatsunabhängigkeit gleicht. Ich melde mich ab. Ich will einen Pass, wo Erdenbewohner drin steht«, singt sie. Wie alle wolle sie zeigen, dass dieser »imperialistische Angriffskrieg uns nicht egal sein kann«, doch eigentlich passe kein Lied, um dieses Grauen zu beschreiben: »Ich würde so gerne beim Ruf »Frieden schaffen ohne Waffen« bleiben. Und doch führen uns diese Tage vor Augen, dass sich irgendwer diesem imperialistischen Angriff entgegenstellen muss. Das bringt einen in die größten Konflikte. Es ist so ein großes Privileg, in Frieden zu leben. Ich bin froh, dass ich keine sicherheitspolitischen Entscheidungen treffen muss«, sagt Dota Kehr dem SPIEGEL.
Auch diese Entscheidungen hat die Regierung getroffen, an diesem historischen Vormittag, an dem Olaf Scholz mit vielen sozialdemokratischen Gewissheiten brach – etwa in dem er kund gab, über ein Sondervermögen 100 Milliarden Euro in die desolate Bundeswehr zu investieren. Zudem kündigte er an, in Gas-Speicher und Flüssiggas-Terminals zu investieren, um unabhängig von russischem Gas zu werden.
Luisa Neubauer bei der Großdemonstration: »Macht die Augen auf. Fossile Energien töten«
Foto: Jean MW / imago images/Future Image
Auf der Demo am Nachmittag forderte Klimaaktivistin Luisa Neubauer, die neben zahlreichen anderen, etwa der Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirsche in Deutschland Annette Kurschuss oder dem Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di eine Rede hielt, dass als friedenssichernde Maßnahme in erneuerbare Energien investiert werden müsse.
»Macht die Augen auf. Fossile Energien töten, egal ob Feinstaub die Lungen von Kindern kaputt macht oder ob die Einnahmen aus fossilen Energien Kriegsverbrecher unterstützen. Erneuerbare Energien sind Bedingung dafür, dass Gesellschaft und Demokratien langfristig geschützt werden können«, sagt Neubauer dem SPIEGEL am Rand der Kundgebung.
Auf der ist der Zustrom mittlerweile so groß geworden, dass die Berliner Verkehrsbetriebe den U-Bahn-Verkehr am Brandenburger Tor zeitweise einstellen müssen. Die Polizei gehe von etwa 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus, sagt ein Sprecher.
»Ich bin hier, um Solidarität zu zeigen, mit den Ukrainerinnen und Ukrainern, aber auch um zu zeigen, dass Russinnen und Russen nicht pauschal mit Rassismus angefeindet werden sollen«, sagt die 20-jährige Jule, die eine Ukraine-Flagge mit dem Hashtag #standwithucraine in die Menge hält.
»Wir sind hier, um für den Frieden einzustehen. Wir beide sind in Frieden aufgewachsen, können uns die Ausmaße von Krieg gar nicht vorstellen. Es ist einfach nur erschreckend«, sagt Janika. Zusammen mit ihrer Freundin Mathilda hat sie ein Transparent gebastelt: »Stop Putin, Stop War«
Zwei Teilnehmende mit Plakat: »Stop Putin, Stop War«
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Auch viele kyrillische mit ukrainischen Schriftzügen sind in der Menge zu sehen, so auch jenes von Cooper, 45. Auf einem Verteilerkasten stehend und mit einer Flagge um den Hals hält er zwei A4-Blätter. »Die Ukraine ist so cool, dass die Nato den Antrag stellen kann, ihr beizutreten«, ist dort zu lesen.
»Ich komme aus der Ukraine. In diesem Krieg kämpft die Ukraine nicht nur für sich selbst, sondern für ganz Europa«, sagt er. Er habe große Angst um seine Familie in Odessa, »dort schlägt mein Herz zum Teil«, sagt er.
Viktoria, 31, hat Tränen in den Augen. Seit 20 Jahren lebt sie in Deutschland, aufgewachsen ist sie in Tschernihiw, einer Großstadt nördlich von Kiew. »Das Haus meines Patenonkels wurde zerstört, meine Familie muss sich die ganze Zeit verstecken.« Die Solidarität auf der Demonstration freue sie, doch das reiche nicht. »Sich informieren, Geld spenden, Menschen bei sich aufnehmen – jeder kann etwas tun«, sagt sie.
Gegen 16 Uhr endet die Demo, die hunderttausend machen sich auf den Heimweg – in der Gewissheit, zumindest etwas gegen die Sprachlosigkeit dieser Tage getan zu haben.