Am 20. März also sollen in Deutschland so gut wie alle Coronamaßnahmen auslaufen. Einige geschichtsvergessene Mitbürger sind darüber so aus dem Häuschen, dass sie von einem Freedom Day sprechen. Das ist, mit Verlaub, Kokolores und an Peinlichkeit kaum zu übertrumpfen. Als Freedom Day wurde bislang zum Beispiel jener Tag im Jahr 1994 bezeichnet, an dem in Südafrika die Apartheid endete, die systematische Unterdrückung der Schwarzen. Oder der Tag der Nelkenrevolution in Portugal, als die jahrzehntelange Diktatur überwunden wurde. Oder die Befreiung von Auschwitz. Bei uns geht es aktuell nur um den schnöden Umstand, dass man bald auch wieder ungeimpft in die Kneipe darf. Welch ein Hohn! Welch ein Missbrauch des Wortes Freiheit! Vergessen wir also schnell den Freedom Day.
Putins Spiel mit dem Krieg
Lässt sich Russland noch von einer Invasion in die Ukraine abhalten? Der Westen hofft auf einen Erfolg seiner Last-Minute-Diplomatie. Welche Strategie verfolgt Wladimir Putin? Selbst Moskaus Eliten rätseln über die Pläne des Kremlchefs.
AdvertisementLesen Sie unsere Titelgeschichte, weitere Hintergründe und Analysen im digitalen SPIEGEL.
Ich glaube ohnehin, dass das größte Problem zuletzt gar nicht die wenigen verbliebenen Maßnahmen waren, sondern die Kraft der Gewohnheit. Als halbwegs gescheiter, weil geimpfter Mensch konnte man auch in den vergangenen Monaten ja so gut wie alles machen, was das Leben bereichert: ins Theater gehen, ins Kino gehen, reisen, ins Restaurant gehen, draußen ein Bier trinken. Selbst die Saunen waren offen. Anders als von den schwurbelnden Spaziergängern behauptet, gibt es ja schon seit einer halben Ewigkeit keinen Lockdown mehr.
Die Frage war eher, ob man es auch machen wollte. Oder ob man freiwillig verzichtete. »Lieber noch ein wenig warten«, mahnt der innere Lauterbach. Aus Angst, Sorge oder anhaltender Umsicht. Oder aus Gewohnheit, wenn nicht gar Trägheit. Denn die gibt es bei Menschen, die fast zwei Jahre im Homeoffice gehockt haben, eben auch. Zu Hause ist es doch auch schön, wenn nicht gar am Schönsten – das mussten wir uns viele Monate über einreden. Und glaubten irgendwann selbst an diesen Gassenhauer des Biedermeiers.
Ich gebe zu: Auch ich bewege mich eher tastend ins neue alte Leben zurück – und finde es noch immer schräg, wenn ich in einem gut gefüllten Restaurant sitze. Für einige meiner Bekannten, die mental leider noch im April 2020 feststecken, kommt es bis heute nicht in die Tüte, abends auszugehen. Viel schwieriger, als ein paar Maßnahmen auslaufen zu lassen, scheint zu sein, eine Gesellschaft wieder auf Trab zu bringen.
Aber ich finde, es wird Zeit, dass wir uns aus der geistigen Hospitalisierung befreien und uns selbst in die Aktivität entlassen. Dass die Jogginghosen abgelegt und andere angelegt werden. Dass Deutschland vom Sofa runterkommt. Zurück in die Museen, Theater und Stadien, in die Bars und Konzerthallen. Kultur statt Netflix sozusagen.
Denn das wäre ja noch schöner: wenn das verfluchte Virus uns nach all den Verlusten noch elanloser und biedermeierlicher zurückließe, als wir es ohnehin schon waren. Statt von Freedom Day sollte man vielleicht besser von einem Tag des Neustarts reden. Und von Lebensfreude.