Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um das Treffen von Wladimir Putin und Olaf Scholz in Moskau. Um Sinn und Unsinn von Wirtschaftssanktionen. Und um das Ansehen des Kapitalismus in Deutschland.
Krieg oder doch großer Bluff?
Entweder ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein passabler Schauspieler. Oder er glaubt inzwischen auch, was US-amerikanische Sicherheitsdienste vorige Woche ihren westlichen Verbündeten mitteilten: dass ein russischer Einmarsch in die Ukraine bereits am morgigen Mittwoch erfolgen wird. In einer Videoansprache teilte er seinen Landsleuten mit: »Man hat uns gesagt, dass der 16. Februar der Tag des Angriffs sein wird.«
Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj, Bundeskanzler Scholz
Foto: Kay Nietfeld / dpa
Kurzerhand erkor er den morgigen Tag trotzig zu einem nationalen Feiertag der Ukraine, einem »Tag der Einheit«. Die Bürger sollen die Staatsflagge hissen und um 10 Uhr die ukrainische Nationalhymne singen. »Zeigen wir der ganzen Welt unsere Einigkeit«, so der ukrainische Präsident.
Die US-Geheimdienste und das US-Militär hatten den Nato-Alliierten am Freitag mitgeteilt, dass ein russischer Angriff auf die Ukraine diesen Mittwoch bevorstehen könne. Es könnte allerdings auch sein, dass die USA die Behauptung bewusst streuten, um die russischen Angriffspläne zu torpedieren.
Nach seinem gestrigen Besuch bei Selenskyj in Kiew wird Bundeskanzler Olaf Scholz heute in Moskau mit Wladimir Putin zusammentreffen. Vier Stunden sind für das Gespräch vorgesehen. In der Theorie reicht die Zeit, um eine Entspannung der Lage zu erreichen und die vermeintlichen Prognosen der US-Geheimdienste ad absurdum zu führen. Falls auch die russische Seite daran interessiert ist.
Wie wirksam sind Sanktionen?
Eine zentrale Frage ist dieser Tage, welche drohenden Sanktionen Putin vom Einmarsch in die Ukraine abhalten könnten. Russlands Botschafter in Schweden, Viktor Tatarinzew (»Wir scheißen auf ihre ganzen Sanktionen«), hatte am Wochenende behauptet, dass die Sanktionen der Vergangenheit sogar »eine positive Wirkung auf unsere Wirtschaft und Landwirtschaft hatten«. Das mag etwas übertrieben sein.
Käsetheke in St. Petersburg
Foto: DPA
Allerdings hat der Kreml die Wirtschaft des Landes in den vergangenen Jahren tatsächlich resilienter gemacht. Nach den Sanktionen im Zuge der Krim-Annexion wurden systematisch Devisen- und Goldreserven angehäuft – und ein Staatsfonds mit mehr als 180 Milliarden Dollar Vermögen aufgebaut. Und während früher mehr als 80 Prozent dieser Reserven bei westlichen Finanzinstitutionen lagerten, sind es jetzt nicht einmal mehr die Hälfte. Das bedeutet: Im Fall einer Eskalation hätte der Westen keinerlei Zugriff auf diese größten Schätze des Landes.
Umgekehrt versäumten es die westlichen Staaten, allen voran die Europäer, sich unabhängiger von russischen Energielieferungen zu machen. Der Anteil Russlands an den deutschen Gasimporten ist gewachsen, beim Öl ist er immerhin gleich geblieben. Das bedeutet: Will Deutschland zusammen mit seinen westlichen Partnern ein starkes und hartes Signal an den Kreml senden, muss es bereit sein, sich selbst ökonomisch zu schaden.
Steinmeiers Mission
Der frisch wiedergewählte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender reisen heute nach Lettland. Das ist an sich nichts Besonderes, der Zeitpunkt aber hat höchste symbolische Wirkung.
Bundespräsident Steinmeier am Sonntag vor der Bundesversammlung
Foto: Florian Gaertner/photothek.de / imago images/photothek
In kaum einer anderen Region ist die Angst vor Russland aus guten historischen Gründen ähnlich stark ausgeprägt wie in den baltischen Staaten. Auch an der Bereitschaft der Nato-Partner, im Bündnisfall tatsächlich für Lettland, Estland und Litauen einzustehen, gab es in den vergangenen Jahren berechtigte Zweifel. Mit seinem Besuch in dieser zugespitzten Lage sendet Steinmeier die Botschaft: Wir sind an Eurer Seite, komme was wolle. Und wenn die Botschaft auch noch stimmt, wäre es ein für die Balten beruhigendes Zeichen.
Neben einem Treffen mit Lettlands Staatspräsidenten will Steinmeier anlässlich des hundertjährigen Bestehens der lettischen Verfassung eine Rede halten. Das Thema: »Für Demokratie und Freiheit in Europa – Lehren aus unserer gemeinsamen Verfassungstradition«.
Nachtrag: Nachdem ich an dieser Stelle über die Rede Steinmeiers vor der Bundesversammlung das Folgende geschrieben hatte: »Er wirkte wie aufgeputscht, engagiert, kämpferisch. Welche Substanzen gestern auch immer im Spiel waren, sie sollten im Spiel bleiben«, simste mir gestern jemand aus dem Schloss Bellevue. »Ich versuche mal, etwas von den Substanzen abzugreifen.« Es bleibt spannend.
Verlierer des Tages…
Ex-Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (1965)
Foto: dpa/ picture alliance / dpa
… ist die Marktwirtschaft. Genauer: ihre deutsche Variante, die »soziale« Marktwirtschaft. Die halten vor allem die jüngeren Deutschen zunehmend für eine Mogelpackung. 58 Prozent der 16- bis 29-Jährigen sehen laut einer SPIEGEL-Umfrage die damit verbundenen Versprechen, etwa den alten Ludwig-Erhard-Gassenhauer »Wohlstand für alle«, nicht erfüllt. Nur 29 Prozent sind gegenteiliger Ansicht. Besonders Frauen in dieser Altersgruppe empfinden die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit als groß; lediglich knapp jede Fünfte von ihnen lebt gefühlt in einer wirklich sozialen Marktwirtschaft.
Ein wenig Hoffnung für den Kapitalismus gibt es dennoch. Auch in der jungen Generation wird er immerhin noch von 46 Prozent als das bestmögliche Wirtschaftssystem gesehen. 40 Prozent sind anderer Ansicht. Letzte Rettung sind übrigens die Männer. Bei jüngeren Frauen schneidet der Kapitalismus jedenfalls weitaus schlechter ab.
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Einen heiteren Dienstag wünscht Ihnen
Ihr Markus Feldenkirchen