Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um die Glaubwürdigkeit des früheren Papstes. Um die Israelreise von Außenministerin Baerbock. Und um den Impfstoffmangel in Afrika.
Joseph Ratzinger und das Jüngste Gericht
»Ich werde ja nun bald vor dem endgültigen Richter meines Lebens stehen«, schreibt Joseph Ratzinger in einem Brief an sein früheres Erzbistum München und Freising, den der Vatikan gestern veröffentlichte. Auch wenn er beim Rückblick auf sein langes Leben viel Grund zum Erschrecken und zur Angst habe, sei er doch frohen Mutes, so Ratzinger, der einige Jahre lang als Papst Benedikt XVI. unterwegs war. »Weil ich fest darauf vertraue, dass der Herr nicht nur der gerechte Richter ist, sondern zugleich der Freund und Bruder, der mein Ungenügen schon selbst durchlitten hat und so als Richter zugleich auch mein Anwalt ist.«
Josef Ratzinger, 1977 als Erzbischof von München und Freising
Foto: A0367 Ludwig Hamberger/ dpa
Frohen Mutes wies Ratzinger dann zentrale Vorwürfe im Münchner Missbrauchsskandal Anfang der Achtzigerjahre zurück, als er selbst noch Erzbischof von München und Freising war. »Bei der Riesenarbeit jener Tage«, schreibt Ratzinger, sei »ein Versehen erfolgt«. Zunächst hatte er angegeben, an einer wichtigen Sitzung nicht teilgenommen zu haben, was allerdings falsch war. Dieser Fehler, so Ratzinger, sei nicht beabsichtigt gewesen »und ist, so hoffe ich, auch entschuldbar«. Dass dieses Versehen »ausgenutzt wurde, um an meiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln, ja, mich als Lügner darzustellen, hat mich tief getroffen.« Zugleich richtete Ratzinger eine »aufrichtige Bitte um Entschuldigung« an sämtliche Missbrauchsopfer.
Als Katholik und Journalist, das muss ich gestehen, bin ich in dieser Angelegenheit gespalten. Der Journalist zweifelt an Ratzingers Persilschein in eigener Sache, chronisches Misstrauen ist ja quasi Berufsvoraussetzung. Als Katholik aber will ich an das Gute im Menschen glauben, auch an das Gute in Ratzinger, dessen Rückzug ich nie wirklich bedauert habe – auch weil mir die soziale Agenda seines Nachfolgers Franziskus persönlich sehr viel näher ist. Und verzeihen sollten Katholiken allemal können.
Ich fürchte, dass sich dieser innere Konflikt nie wirklich auflösen wird. Als Katholik und Journalist werde ich wohl ewig eine gespaltene Persönlichkeit bleiben.
Annalena Baerbock und das Völkerrecht
Ihre ersten Auslandsreisen verliefen gut, hartleibigen Gastgebern wie den Außenministern Lawrow (Russland) und Rau (Polen) trat sie unerschrocken entgegen. Im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine lehnt Außenministerin Annalena Baerbock einerseits Waffenlieferungen an die Ukraine strikt ab. Zugleich aber zeigt sie, wie am Dienstag, ihre Solidarität mit dem Land, als Baerbock mit Helm und Schutzweste die Front im Osten besuchte.
Außenministerin Baerbock mit Russlands Außenminister Sergej Lawrow in Moskau
Foto: Maxim Shemetov / REUTERS
Mit spektakulären Personalentscheidungen versucht sie derweil, dem Auswärtigen Amt ein Stück des verlorenen Einflusses zurückzugeben. Gestern berichteten wir über die Ernennung der Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan zur Sonderbeauftragten für internationale Klimapolitik. (Um wie geplant Staatssekretärin im Auswärtigen Amt zu werden, muss die US-Amerikanerin zunächst noch deutsche Staatsbürgerin werden.) Es ist mindestens mutig, eine Lobbyistin zur Staatssekretärin zu machen. Man muss sich nur vorstellen, was los wäre, wenn Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) die Chefin des Verbands der deutschen Autoindustrie zur Staatssekretärin ernennen würde.
Heute fliegt Baerbock zum ersten Mal in den Nahen Osten, zunächst nach Israel und in die palästinensischen Gebiete, am Donnerstag weiter nach Jordanien, von dort geht es am Freitag nach Ägypten. Der israelisch-palästinensische Konflikt geriet zuletzt ein wenig aus dem Blick der deutschen Außenpolitik. Es wird daher interessant sein, wie sich Baerbock bei der Pressekonferenz mit ihrem israelischen Kollegen Yair Lapid zu dem Konflikt äußert. Wird sie den Siedlungsbau im Westjordanland ansprechen? Wird sie von »besetzten Gebieten« sprechen? Baerbock ist jedenfalls gut gerüstet für solch knifflige Fragen. Immerhin kommt sie, wie wir seit einem gemeinsamen Interview mit Robert Habeck wissen, »vom Völkerrecht«.
Raffzahn Europa
Im französischen Lyon treffen heute zahlreiche Außen- und Gesundheitsminister der EU-Staaten zusammen. Für die Bundesrepublik wird Karl Lauterbach vor Ort sein. Beraten wird unter anderem über den Erwerb und die Abgabe von Impfstoffen. In gewisser Weise geht es also um die Frage, wie egoistisch beziehungsweise altruistisch der wohlhabende Kontinent künftig sein will. Bei der Impfstoffbeschaffung handelten die meisten EU-Staaten nach dem Motto »Ich zuerst«. Was zur Folge hat, dass in Deutschland heute Impfdosen vergammeln, weil sie keine impfwilligen Abnehmer finden, während in vielen Ländern Afrikas nicht mal zehn Prozent der Bevölkerung gegen Corona geimpft sind. Vor allem, weil der Stoff fehlt.
Corona-Impfung in Uganda
Foto: Nicholas Bamulanzeki / AP
Welche Lehre könnte Europa aus dieser Situation ziehen? Für diese Pandemie, aber auch für die Pandemien der Zukunft?
Da die Produktion der Impfstoffe der entscheidende Faktor (und Engpass) ist, müsste beherzt in Produktionsstätten investiert werden, entweder in Partnerschaft mit Pharmafirmen – oder eigenständig, als Europäische Union, als Bundesrepublik Deutschland. Dann könnte in Zukunft rasch genügend Stoff für alle da sein, nicht nur für Deutsche oder Europäer. Man könnte die eigene Bevölkerung gut und schnell schützen – und müsste vor dem Rest der Welt trotzdem nicht als Raffzahn dastehen.
Gewinner des Tages…
Präsidentschaftskandidatin Gebauer
Foto: Reiner Zensen / imago images/Reiner Zensen
…sind die Freien Wähler. Als einzige Partei schicken sie eine Frau ins Rennen um Schloss Bellevue. Während der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von SPD, Grünen, FDP sowie CDU und CSU nominiert wurde, der Arzt und Sozialarbeiter Gerhard Trabert von der Linken und die AfD auch einen Mann ins Rennen schickt, haben die Freien Wähler die Brandenburger Physikerin Stefanie Gebauer nominiert. Dass es im Vorfeld dieser Nominierung auch bei den Freien Wählern turbulent zuging, vergessen wir an dieser Stelle mal.
Heute soll die 42-jährige Gebauer bei einer Pressekonferenz vorgestellt werden. Mit ihrer Kandidatur wolle sie vor allem Frauen Mut machen, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen, auch in Führungsaufgaben. Sie würde eine »Bürgerpräsidentin« sein. Dass sie am kommenden Sonntag gewählt wird, ist so gut wie ausgeschlossen. Die Freien Wähler stellen nur 18 von 1472 Mitgliedern der Bundesversammlung.
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Einen heiteren Mittwoch wünscht Ihnen
Ihr Markus Feldenkirchen