Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Benedikt XVI. im Missbrauchsskandal – Was ist von seiner Entschuldigung zu halten?
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Baerbocks Klimapersonalpolitik – Wie unabhängig ist die bisherige Greenpeace-Chefin?
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Oscar-Nominierungen – Wer ist der Favorit?
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1. Die Fehlbaren
Eins der vielleicht größten Missverständnisse über die katholische Kirche betrifft das Dogma der Unfehlbarkeit, wonach ein Papst niemals irren kann. Von Pius IX. vor gut 150 Jahren verkündet (auch zum Ausbau und zur Sicherung der eigenen Macht) besagt es eben nicht, dass Päpste nie Fehler machen – sondern dass sie in Fragen des Kirchenrechts letztgültig entscheiden dürfen – eine Art Basta-Kompetenz. (Hier mehr dazu.)
Wir irdisch sich Gottes Stellvertreter verzetteln können, zeigt sich heute am emeritierten Papst Benedikt XVI. Er hat zentrale Vorwürfe im Münchner Missbrauchsskandal zurückgewiesen – vor allem den der Lüge. Es geht unter anderem um die Frage, ob er an einer Ordinariatssitzung 1980 teilnahm, bei der über einen wegen Missbrauchs verurteilten Priester gesprochen wurde. Nein, Kardinal Ratzinger, wie Benedikt damals noch hieß, war nicht dabei, hieß es in einer Stellungnahme. Dann stellte sich raus: Doch, laut Protokoll war er dabei. »Ein Versehen«, schreibt Benedikt jetzt, das »bei der Riesenarbeit jener Tage – der Erarbeitung der Stellungnahme – erfolgt« sei. Dass dieses Versehen »ausgenutzt wurde, um an meiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln, ja, mich als Lügner darzustellen, hat mich tief getroffen«. (Hier mehr dazu.)
Mein Kollege Felix Bohr, Kirchenexperte aus unserem Geschichtsressort hat mit Benedikts Anwalt gesprochen. Zum Fall des Missbrauchstäters, der nach seinem Wechsel in die Erzdiözese München 1980 wieder als Seelsorger eingesetzt wurde und neue Taten beging, sagt der Anwalt: Kardinal Ratzinger habe seinerzeit keine Kenntnis von dessen Vorgeschichte gehabt. »Auch die Erzdiözese München hat nach Aktenlage keinen Hinweis darauf, dass die für Personalfragen zuständigen Mitarbeiter Ratzinger damals informiert haben.«
Benedikt weist in seinem heute veröffentlichten Brief aber nicht nur Vorwürfe zurück, sondern richtet auch eine »aufrichtige Bitte um Entschuldigung« an sämtliche Missbrauchsopfer. »Ich finde den Brief beachtlich«, sagt mein Kollege Felix. »Zwar gesteht Benedikt keine persönliche Schuld für die Vertuschung von Missbrauchstaten. Doch er übernimmt zumindest Verantwortung für die Organisation, indem er sich für die Taten entschuldigt, die in seiner Amtszeit als Münchner Erzbischof geschehen sind.«
Die vielleicht sympathischste Haltung zum Unfehlbarkeitsdogma formulierte aus meiner Sicht der Reformpapst Johannes XXIII. Gleich nach seiner Wahl 1958 erklärte er: »Ich bin zwar jetzt unfehlbar, gedenke aber nicht, davon Gebrauch zu machen.«
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Lesen Sie hier das ganze Interview: So verteidigt Benedikts Anwalt den emeritierten Papst
2. Grüne Klimapersonalpolitik
Diese Personalie versetzt heute das politische Berlin in Aufregung – und kurze Zeit später natürlich einige Teile der sozialen Medien: Außenministerin Annalena Baerbock beruft Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan zur Sonderbeauftragten für internationale Klimapolitik, wie meine Kollegen Matthias Gebauer, Christoph Schult und Gerald Traufetter aus unserem Hauptstadtbüro berichten.
Morgan ist US-Amerikanerin, lebt aber seit einiger Zeit in Berlin. Nach jahrzehntelanger Arbeit in Nichtregierungsorganisationen (vor Greenpeace unter anderem beim WWF und in einer Denkfabrik) hat sie natürlich beste Kontakte zu Aktivistinnen und Aktivisten, aber auch zu den wichtigsten Köpfen der Klimapolitik – von John Kerry über Al Gore bis zu Frans Timmermans, dem Vizechef der EU-Kommission. Sie kennt sich aus mit der Materie. Warum also die Aufregung?
Weil solche Seitenwechsel immer erstmal Fragen aufwerfen. Und diese vielleicht noch einmal lauter gestellt werden, wenn jemand erst eingebürgert werden muss, um den Posten einer verbeamteten Staatssekretärin zu bekommen. Zu allererst ist da die Frage nach der Integrität: Wie unabhängig kann jemand agieren, der bis gerade eben eine Lobby-Organisation geführt hat? Der Leiter des »Bild«-Parlamentsbüros twitterte ironisch von »transparenter Lobby-Politik« und fragte: »Ob der ADAC-Chef vielleicht Staatssekretär im Verkehrsministerium wird?«
Natürlich ist die Empörungsbereitschaft immer höher auf der jeweils entgegengesetzten Seite des ideologischen Spektrums. Im Porsche-Club wird Baerbocks Personaltableau zu mehr Geläster führen als im alternativen Elterncafé. Umgekehrt verhält es sich, wenn der Kanzler sich von einem ehemaligen Goldman-Sachs-Banker beraten lässt. Ja, frühere Tätigkeiten hinterlassen Spuren bei Funktionsträgern; es schleifen sich Denkweisen und Routinen ein. Aber die Seitenwechsel vollziehen sich nicht im Verborgenen. Und souveräne Politikerinnen und Politiker vertrauen eh nicht blind ihren Einflüsterern, sondern sehen sie als das, was sie sind: Fachleute mit unterschiedlichen Kompetenzen, Macken, blinden Flecken.
Deshalb ist die Gefahr gering, dass Greenpeace künftig die deutsche Klimapolitik bestimmt. In etwa so gering wie die Gefahr, dass der Finanzdienstleister Blackrock die Opposition führt.
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Lesen Sie hier mehr: Baerbock holt Greenpeace-Chefin Morgan ins Auswärtige Amt
3. American Stream
Benedict Cumberbatch ist für den Oscar nominiert, allerdings nicht für seine Leistungen als Drache Smaug in den »Hobbit«-Filmen, was ich Banause für angemessen gehalten hätte, auch wenn die Ehrung Jahre zu spät gekommen wäre. Sondern als bester Hauptdarsteller im Netflix-Western »The Power of the Dog«. Der Film holte die meisten Nominierungen, nämlich zwölf. Darunter auch die für Jane Campion für die beste Regie – was sie zur ersten Frau überhaupt macht, die zweimal in dieser Kategorie nominiert wurde.
»Damit stehen die Chancen für Netflix erneut sehr gut, endlich den Titel ›Best Picture‹ zu erlangen«, sagt mein Kollege Andreas Borcholte aus unserem Kulturressort. »The Power of the Dog« sei »ein sinnlich und intensiv erzählter Western voller homoerotischer Spannung«. Er gilt als klarer Favorit für die Verleihung am 27. März in Los Angeles.
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Lesen Sie hier mehr: Oscar-Historie wiederholt sich nicht – oder doch?
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Ministerpräsidenten gehen auf Distanz zu Söder: An Söders Vorstoß, die Impfpflicht für Pflegekräfte vorerst auszusetzen, gibt es erhebliche Kritik anderer Regierungschefs. CDU-Vertreter hingegen teilen den Unmut aus Bayern.
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dm-Gründer Götz Werner ist tot: Der Gründer der Drogeriemarktkette dm ist im Alter von 78 Jahren verstorben. Götz Werner baute ein Firmenreich mit 66.000 Angestellten auf – und warb zuletzt stark für ein bedingungsloses Grundeinkommen.
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Macron verspricht »konkrete, praktische Lösungen« für Ukraine. Der französische Präsident Macron gibt sich zuversichtlich, den Konflikt zwischen Moskau und Kiew entspannen zu können. Die Hoffnung steigt, das Normandie-Format wiederbeleben zu können.
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Geisenberger rodelt zum nächsten Gold für Deutschland: Es ist bereits ihr fünfter Olympiasieg: Natalie Geisenberger war die dominante Athletin im Rodelwettbewerb. Anna Berreiter machte den deutschen Doppelerfolg perfekt.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Endemie kommt nicht von Ende
Karl Lauterbach geht davon aus, dass Schutzmaßnahmen noch vor Ostern gelockert werden können. Viele hoffen auf einen erneut guten Sommer. Jeder dahergelaufene Drosten-Hörer doziert über den Wandel von der Pandemie zur Endemie, so als wäre dann alles gut.
»Wir werden aber nicht plötzlich aufwachen und Corona ist vorbei«, sagt meine Kollegin Julia Merlot aus unserem Wissenschaftsressort. Aber sie macht auch Hoffnung: »Die Endemie würde die Lage deutlich verbessern, bedeutet aber weiterhin ein regional gehäuftes Auftreten von Krankheitsfällen.«
Ich kann nur empfehlen: Werden Sie vom Drosten-Hörer zum Merlot-Leser. Oder beides.
Den ganzen Text finden Sie hier.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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»Ich werde auf keinen Fall nach China zurückgehen« Der Unternehmer Desmond Shum hatte Zugang zu den höchsten Machtzirkeln im Land. Dann verschwand seine Ex-Frau spurlos. In einem Buch schildert er das System: als ruchlos, korrupt und mafiös.
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Er hat keine Lust mehr auf Zweifel: Warum wechselt Niklas Süle von München zum BVB? Wie kann sich Dortmund den Nationalspieler leisten? Und wurde der Verteidiger bei den Bayern verkannt? Über einen Transfer, der die Bundesliga bewegt.
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»Niemand wird den Fischotter daran hindern, über die Grenze zu schwimmen« Umweltschützer befürchten verheerende Folgen für die Tierwelt, wenn demnächst eine Stahlkonstruktion den Białowieża-Forst in Polen und Belarus durchtrennt. Ist der letzte Urwald Europas in Gefahr? Fragen an einen Experten.
Was heute weniger wichtig ist
Foto:
Nicolas Armer / picture alliance / dpa
Volk gegen Musiker: Einen Streit über einen Auftritt von Volksmusiksänger Heino, 83, im vergangenen September hat ein Verein aus Aachen öffentlich gemacht. Der Auftritt beim Sommerfest 2021 habe nicht den vertraglich vereinbarten Leistungen entsprochen, erklärte der Freizeit- und Erholungsverein Walheim auf seiner Facebook-Seite. Konkret geht es darum, dass Heino zu Vollplayback aufgetreten sei. Das Management des Künstlers sagte der Nachrichtenagentur dpa, Heino habe bei dem Auftritt jeden Titel gesungen. Wie die Darbietung erfolge, sei Sache des Künstlers. Der Veranstalter habe schon vor dem Auftritt mit Verweis auf die Coronalage um eine Reduktion der Gage gebeten: »Es geht rein um monetäre Absichten.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Er gehe aber schon davon aus, dass in Innenträumer weiter Maske getragen werden müsse.
Cartoon des Tages: Impfpflicht
Foto: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Könnten Sie einer Empfehlung meines Kollegen Wolfgang Höbel folgen und Uma Thurman dabei zusehen, wie sie in der Serie »Suspicion« die Chefin eines wichtigen US-Konzerns spielt, deren erwachsener Sohn entführt wird. Die Aufklärung des Verbrechens sorgt für ziemlich aberwitzige Enthüllungen.
»Viel ist in dieser Thriller-Serie, die in ihrer Routiniertheit oft vergnüglich ist, von der etwas aus der Mode gekommenen Kategorie der ›Wahrheit‹ die Rede«, schreibt Wolfgang. »Und in der fünften von acht Episoden wird tatsächlich die absolut klassische Grundsatzfrage für jeden Brave-Bürger-in-Not-Krimi gestellt: ›Wie um Himmel sind wir alle bloß hier hineingeraten?‹« (Die ausführliche Rezension finden Sie hier, die Serie bei Apple TV+)
Hinaus geraten Sie hier, jedenfalls aus diesem Newsletter.
Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Oliver Trenkamp
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