Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute beschäftigen wir uns mit Kurswechseln und Kurssuche: Der AfD-Chef bemerkt, dass er Chef der AfD ist; die Bundesregierung will weder ihre Verbündeten noch Russland verprellen; die SPD möchte ihre Beziehung zu Wladimir Putin klären; und die Grünen bekommen neue Parteichefs.
Meuthen gibt auf
Jörg Meuthen setzt eine lange Tradition in der Rechtsaußen-Partei fort: Nach dem Vorsitz kommt der Austritt. AfD-Gründer Bernd Lucke (2013 bis 2015) legte vor, Frauke Petry (2015 bis 2017) folgte. Gestern dann gab Meuthen seinen Parteivorsitz mit sofortiger Wirkung ab und trat aus der Partei aus, die er seit 2015 (mit)führte.
Seine Begründung laut ARD: »Das Herz der Partei schlägt heute sehr weit rechts und es schlägt eigentlich permanent hoch.« Teile der Partei stünden »nicht auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung«.
AdvertisementMeuthen (r.), hier noch während seines siebenjährigen Erkenntnisprozesses als AfD-Chef, mit Parteifreunden Gauland (l.) und Höcke, im Oktober 2019
Foto: M. Popow / imago images/Metodi Popow
Nach sieben Jahren an der Spitze dieser Rechtsaußen- und Rechtsdraußen-Partei ist es – ja, wie soll man sagen – überraschend, dass Meuthen diese Erkenntnis erst jetzt dämmert.
Mehr noch: Der 60-Jährige beklagt eine Radikalisierung der AfD, an der er über viele Jahre mitgewirkt hat. Mehrfach war er Promi-Gast auf den Jahrestreffen des als rechtsextrem eingestuften und inzwischen offiziell aufgelösten AfD-Netzwerks »Flügel« um Björn Höcke.
Noch im Jahr 2018 versicherte er seine Parteikameraden dort, dass sie »selbstverständlich« ein »zentraler Bestandteil« der Partei seien. Die AfD sei »auf dem richtigen Weg«. Das können Sie sich bei YouTube alles noch anschauen.
Der Mensch mag vergesslich sein, das Internet ist es nicht.
Erst vor zwei Jahren wendete sich Meuthen gegen den »Flügel«, auch, weil er die mögliche Einstufung der Gesamtpartei als Rechtsextremismus-Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz fürchtete.
In bed with Putin?
In unserem aktuellen Magazin berichten wir über eine Warnung aus Washington. Emily Haber, die deutsche Botschafterin in den USA, setzte am vergangenen Montag nach SPIEGEL-Informationen eine vertrauliche Nachricht ans Auswärtige Amt ab: »Berlin, wir haben ein Problem.«
Haber schildert demnach, wie Deutschland in den USA wegen der Zurückhaltung in der Ukrainekrise als »unzuverlässiger Partner« diskreditiert werde, die Bundesregierung gelte als Bremse beim Thema Sanktionen gegen Russland.
Alte Freunde: Damaliger SPD-Kanzler Schröder (l.), russischer Präsident Putin, im Oktober 2005
Foto: ITAR-TASS / REUTERS
Zudem sorge die Blockade von Waffenlieferungen für Ärger. In Washington erkläre man sich die Haltung damit, dass Berlin weiter billiges Gas aus Russland beziehen wolle. Gerade die Republikaner benutzten immer wieder die Sprachformel, Berlin sei »in bed with Putin«.
Das Team um meinen Kollegen Dirk Kurbjuweit schreibt: »Damit steht Deutschland dort, wo es fast immer in außenpolitischen Krisen steht: am Rand, misstrauisch beäugt.«
Die wie Satire wirkende Lieferung von 5000 deutschen Schutzhelmen, die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) mit großer Geste verkündete, und die noch immer nicht erteilte Freigabe von Haubitzen aus DDR-Beständen, die Estland gern an die Ukraine exportieren würde, bestätigen diesen Eindruck.
Insbesondere das Verhältnis der Kanzlerpartei zu Russland ist unklar. SPD-Chef Lars Klingbeil hat nach SPIEGEL-Informationen für Montag führende Sozialdemokraten zu einer vertraulichen Klausur eingeladen, darunter Fraktionschef Rolf Mützenich und Ex-Parteichef Martin Schulz.
Ziel des Treffens ist dem Vernehmen nach, eine neue europäische Ostpolitik auszuloten und die beiden innerparteilichen Lager – Kuscheln mit Putin oder Härte gegen Russland – zu versöhnen.
Neue Spitze für die Grünen
Bei den Grünen ist die Distanz zum Autokraten aus Moskau größer. In der Frage der Waffenlieferungen dürfte auf die einstige Partei der Pazifisten aber bald eine spannungsreiche Debatte zukommen, schließlich hatte etwa Vizekanzler Robert Habeck noch im Wahlkampf für die Lieferung von Defensivwaffen an die Ukraine geworben.
Ob diese Debatte aber bereits auf dem heutigen Parteitag der Grünen läuft? Eher nicht. Denn all jene, die gegebenenfalls für eine entspanntere Haltung in der Frage von Waffenexporten ins Krisengebiet Ukraine plädieren könnten, sind in die Regierungsdisziplin eingebunden: Neben Außenministerin Annalena Baerbock und Habeck sind das die Europapolitikerin Franziska Brantner (Parlamentarische Staatssekretärin bei Habeck) und Verteidigungspolitiker Tobias Lindner (Baerbocks Staatsminister); Außenpolitiker Omid Nouripour derweil steht heute vor seiner Wahl zum Parteichef.
Grünen-Politikerin Lang
Foto: Kay Nietfeld / dpa
So wird der Parteitag vor allem von den Grünen selbst handeln, weniger von all den Krisen da draußen. Neben Nouripour tritt Ricarda Lang an. Die Wahl der beiden gilt als recht sicher. Lang wird wegen einer Coronainfektion mit ihrer Bewerbungsrede über Video zugeschaltet werden.
Meine Kollegin und Grünen-Expertin Valerie Höhne prophezeit, dass es Lang und Nouripour in den kommenden Jahren nicht leicht haben werden. »Sie müssen vermitteln, zwischen der Basis, die sich daran gewöhnen muss, dass sie jetzt Teil einer Regierungspartei ist, und den Ministerinnen und Ministern, die statt Forderungen zu erheben nun Realpolitik machen müssen.« Habituell unterschieden sich Lang und Nouripour deutlich von ihren Amtsvorgängern Baerbock und Habeck, sie seien »weniger glatt«. Trotzdem verfolgten sie dasselbe Ziel: »Die Partei noch breiter aufzustellen. Das birgt ein hohes Konfliktpotenzial mit der tendenziell linkeren Basis.«
Gewinner des Tages …
… ist der Flughafen Kassel-Calden. Dessen Schicksal ist es ja seit vielen Jahren, dass ihn eigentlich niemand so recht braucht. Aber in der Coronakrise macht er sich nützlich, denn dort befindet sich das Impfzentrum des Landkreises. Heute aber strengt er sich noch mal besonders an, der früher überflüssige Airport: Ab 10 Uhr läuft dort eine Impfaktion in einem Airbus A 400M der Luftwaffe. Also dann: Ab nach Kassel!
Flughafen Kassel-Calden
Foto: Uwe Zucchi/ picture alliance / dpa
P.S.: Machen Sie mir diese historische Schlusspointe jetzt bitte nicht kaputt, indem Sie mich darauf hinweisen, dass die Gemeinde Calden nicht zur Stadt Kassel gehört. Weiß ich doch. Aber womöglich bezog sich der Ab-nach-Kassel-Spruch einst sogar eher auf Nordhessen als auf die Stadt im engeren Sinne. Alles Weitere dann gern bilateral per Mail.
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