Am Ende seiner Rede im Bundestag bricht Mickey Levy in Tränen aus. Gerade hat der Präsident des israelischen Parlaments zum Gedenken an die Opfer der Schoa das Kaddisch gelesen, das jüdische Heiligungsgebet. »Toda«, schiebt Levy an die anwesenden Parlamentarier noch hinterher, »danke«, dann vergräbt er weinend sein Gesicht in seinen Händen. Die Anwesenden im Bundestag erheben sich, spenden minutenlang Applaus.
Dass ein Jude im deutschen Parlament betet und seinen Tränen freien Lauf lässt, es ist auch 77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs keine Selbstverständlichkeit. Doch ist es Teil einer Heilung.
AdvertisementAm 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Auschwitz. Das Wort ist zentraler Bestandteil deutscher Identität geworden, wie kaum ein anderes steht es für das Erinnern, für das Nichtvergessen. Die Nationalsozialisten hatten hier mehr als eine Million Jüdinnen und Juden ermordet. Der Massenmord war bürokratisch geplant, bis heute ist Auschwitz einer der bedrückendsten Orte der Schoa.
Seit 1996 erinnert der Bundestag mit einer Gedenkstunde an die Befreiung. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) nennt ihn an diesem Donnerstag, zur Eröffnung des Gedenkakts, einen »Tag der Scham«. Gegen die Planung des Massenmords in der Wannseekonferenz habe keiner der Anwesenden damals Einwand erhoben, sagt Bas. Die Wannseekonferenz stehe »für einen Staat, in dem Unrecht zu Recht wurde«, getragen von Menschen, »die zu Mördern und Helfershelfern wurden«.
Dass der Hass und die Vernichtung aus der Mitte der deutschen Gesellschaft kam und von ihr getragen wurde – daran zu erinnern, dafür sind Tage wie der 27. Januar bis heute notwendig. Geschichte ist nicht vergangen, sie muss jeden Tag neu verstanden werden. Die Demokratie muss jeden Tag aufs Neue verteidigt werden.
Doch wie gedenkt man, ohne sich in Ritualen zu verlieren? Das wird zur großen Frage im Bundestag.
»Erinnerungskultur lässt sich nicht von oben verordnen«, sagt Bas. Sie dürfe sich auch nicht in »staatlichen Ritualen« wie dem Gedenktag erschöpfen. »Unsere von vielen geachtete Gedenkkultur bleibt nur lebendig, wenn wir immer wieder von Neuem Fragen an die Geschichte stellen.«
Erinnerungen einer Überlebenden
Erinnerung stehe auch für »Aufbau«, sagt Knesset-Präsident Levy später in seiner Rede. Deutschland und Israel hätten eine Brücke gebaut, beide wissen um die unerlässliche Notwendigkeit, gemeinsam weiter an der Bewahrung der Demokratie zu arbeiten. »Wir entscheiden uns jeden Tag erneut für das Leben«, so Levy. Die ewig ernste Warnung des Holocaust laute: »Nie wieder. Nie wieder.«
Dass dieses »Nie wieder« auch nach 77 Jahren betont werden muss, zeigt ein Blick in die Gegenwart. Antisemitismus und Rassismus sind lebendig in Deutschland. In Halle versuchte ein Rechtsextremist, eine Synagoge zu stürmen, in Hanau tötete ein anderer neun Menschen mit Migrationsgeschichte. Ein Drittel der Deutschen glaubt, dass die Juden zu viel Einfluss haben. Auf Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen und im Netz werden antisemitische Verschwörungsmythen verbreitet.
Die Coronapandemie, sie sei in den vergangenen beiden Jahren »wie ein Brandbeschleuniger« für den Judenhass in Deutschland geworden, sagt die Bundestagspräsidentin. »Der Antisemitismus ist mitten unter uns.«
»Leider ist dieser Krebs wieder erwacht«, sagt auch Inge Auerbacher über den Judenhass in ihrer Rede. Er sei in vielen Ländern der Welt, »auch in Deutschland«, wieder alltäglich.
Inge Auerbacher ist Überlebende der Schoa. Die 87-jährige New Yorkerin stammt aus Kippenheim am Rande des Schwarzwalds und überlebte als Kind das Konzentrationslager Theresienstadt. Im Bundestag spricht sie über ihre Geschichte, über ihre Erinnerungen.
»Wir wurden empfangen vom Brüllen der Aufseher«, erinnert sich Auerbacher an die Ankunft in Theresienstadt. Sie spricht von »Nazi-Rowdys«, die sie und ihre Familie mit Schlägen traktiert hätten. Die einzigen Auswege, die es gab: Gaskammern, Selbstmord oder Hungertod. Im Alter von sieben Jahren war ihre Kindheit vorbei, ein Leben in Angst begann.
Das Mädchen überlebte und wanderte mit seinen Eltern nach dem Krieg in die USA aus. Nun kehrt Auerbacher zurück mit einer Botschaft. »Menschenhass ist etwas Schreckliches«, sagt sie zum Abschluss ihrer Rede. »Wir sind alle als Brüder und Schwestern geboren. Mein innigster Wunsch ist die Versöhnung aller Menschen.«
Auerbacher steht bei ihrer Rede im Bundestag nur wenige Meter von der AfD-Fraktion entfernt. Vertreter der in Teilen rechtsextremen Partei verhöhnten das Gedenken in der Vergangenheit als »Schuldkult«, den Nationalsozialismus als »Vogelschiss der deutschen Geschichte«.
Aber längst wird das Böse nicht mehr nur mit Worten banalisiert. Die Pandemie zeigt, wie Worte wieder in Taten münden. Impfgegnerinnen und Impfgegner verhöhnen heute auf ihren »Spaziergängen« mit angenähten »Ungeimpft«-Davidsternen die Opfer der Schoa. Bei diesen oft illegalen und immer wieder von gewalttätigen Übergriffen durchsetzten »Spaziergängen« gegen die Coronapolitik laufen AfD-Abgeordnete in den ersten Reihen mit.
Dem Gedenktag im Bundestag können viele AfD-Abgeordnete hingegen nicht beiwohnen: Die gegenwärtigen Hygieneregeln des Hauses erlauben nur Geimpften oder Genesenen die Teilnahme an außerparlamentarischen Veranstaltungen. Das gilt auch für die Tribünen, auf denen die ungeimpften AfD-Parlamentarier sonst an den regulären Plenarsitzungen teilnehmen dürfen.
Zum so wichtigen Gedenken müssen die rechten Impfverweigerer draußen bleiben, ein Eilantrag der AfD-Fraktion beim Bundesverfassungsgericht gegen die 2G-plus-Regeln wurde abgewiesen. Wichtige Mahnungen des Gedenktags bleiben für einige so ungehört.
»Mut zur Intoleranz«
»Die Demokratie trägt kein Ewigkeitssiegel«, sagt die SPD-Politikerin Bas. Freiheit und Demokratie seien auf engagierte Bürger angewiesen, »von uns allen hängt es ab«. Gegen jene, die die Demokratie mit Füßen treten, müsse man auch »Mut zur Intoleranz« zeigen, sagt Bas dann indirekt an die AfD-Fraktion gewandt: »Wenn Rechtsextremisten, Geschichtsrevisionisten und Völkisch-Nationale Wahlerfolge feiern, dann ist das kein Alarmzeichen, dann ist das allerhöchste Zeit zu handeln.«
Die Abgeordneten im Saal klatschen zustimmend. In den Reihen der ausgedünnten AfD-Fraktion stimmen nur zögerlich einige Parlamentarier in den Applaus ein. Andere, darunter Fraktionschefin Alice Weidel, verschränken ihre Arme.
Der Gedenktag am 27. Januar ist kein Ritual. Er ist Verantwortung.