EU-Wirtschafts- und Währungskommissar Paolo Gentiloni will den Schuldenabbau künftig für jeden einzelnen Mitgliedstaat maßgeschneidert regeln. »Wir können nicht alle Länder über einen Kamm scheren«, sagte der Italiener der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (»FAZ«). Gentiloni will deshalb etwa Mitte 2022 einen Vorschlag für eine umfassende Reform des EU-Stabilitätspakts vorlegen.
Eine »differenzierte Betrachtung« hoch verschuldeter Mitgliedstaaten soll einen Teil der Reform ausmachen. Es sei sinnvoll, für jedes Land eigene Ziele festzulegen, sagte Gentiloni. Er könne sich auch vorstellen, den Mitgliedstaaten mehr haushaltspolitischen Spielraum als bisher zu gewähren. Zugleich müsse die EU-Kommission wirkungsvollere Instrumente zur Durchsetzung der Haushaltsregeln an die Hand bekommen.
AdvertisementBisher gelten für alle Staaten, deren Verschuldung den Referenzwert von 60 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung überschreitet, dieselben Regeln für den Schuldenabbau. Allerdings werden sie nicht durchgesetzt, weil sie als unrealistisch gelten. Die durchschnittliche Schuldenquote im Euroraum liegt derzeit bei 100 Prozent. »Seien wir ehrlich: Die Schuldenregel haben wir nie durchgesetzt«, sagte Gentiloni. Eine »glaubwürdige und realistische Reform« des EU-Stabilitätspakts setze nun voraus, dass die Staaten auf ihrem derzeitigen Schuldenniveau abgeholt würden und nicht nach einheitlichen Maßstäben behandelt würden.
Bundesregierung lehnt Änderung ab
Gentilonis Heimatland Italien weist 2021 eine Schuldenquote von etwa 155 Prozent auf, die griechische Staatsverschuldung ist mit etwas über 210 Prozent am höchsten. Zum Vergleich: Der deutsche Schuldenberg wird in diesem Jahr nach Prognose des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) auf 69,3 Prozent steigen und soll bis 2023 auf dann 64,3 Prozent fallen.
Den Vorschlag von Klaus Regling, Chef des Euro-Krisenfonds ESM, den Maastrichter Grenzwert von 60 auf 100 Prozent heraufzusetzen, lehnt Gentiloni ab. »Meiner Idee einer differenzierten Betrachtung der Staaten entspricht das gerade nicht.« Außerdem müssten für eine Änderung der Referenzwerte die EU-Verträge geändert werden, was unrealistisch sei.
Gentiloni widersprach zudem der Position der Bundesregierung, wonach der Stabilitätspakt gar nicht geändert werden müsse, weil dieser hinreichend flexibel sei. »Es stimmt, der Pakt lässt sich sehr flexibel auslegen. Als Mitglied verschiedener italienischer Regierungen habe ich das mehrfach erfahren«, sagte der Kommissar. »Aber wenn sich eine flexible Auslegung von Regeln irgendwann nicht mehr von deren kompletter Missachtung unterscheiden lässt, ist etwas schiefgegangen.« Staaten, die eine gemeinsame Währung haben, sollten sich möglichst auch an gemeinsame Regeln halten.