Man kann Atomkraft aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten und dabei ergeben sich auch verblüffend unterschiedliche Bilder. Mal ist sie völlig sicher und harmlos. Und mal sind die Risiken so groß, dass es absolut unverantwortlich wäre, weiter Kernkraftwerke zu betreiben.
Das sogenannte Joint Research Centre (JRC) beispielsweise, der wissenschaftliche Dienst der Europäischen Kommission, kam in einem eigens angeforderten Bericht zu der Frage, ob Atomenergie gefährlich ist oder nicht, zu folgendem Schluss: »Alle potenziell schädlichen Auswirkungen der unterschiedlichen Phasen im Lebenszyklus nuklearer Energiegewinnung auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt können verhindert oder vermieden werden.« Vorausgesetzt, so der Bericht, dass sich alle Beteiligten an strikte Sicherheitsregeln halten.
AdvertisementDie sogenannte Group of Experts, festgeschrieben im europäischen Nuklearabkommen Euratom, stimmte dieser Einschätzung zu: Der JRC-Bericht beruhe auf dem aktuellen Forschungsstand. Allerdings sei »weitere Forschung notwendig«, unter anderem, um »die Sicherheit zu verbessern und Risiken zu reduzieren«.
Wer verschmutzt, bezahlt?
Lediglich die Vertreterin des deutschen Bundesumweltministeriums, das bekanntlich auch für Reaktorsicherheit zuständig ist, gab eine abweichende Meinung zu Protokoll: Die Aufgabenstellung der Expertengruppe sei zu eng gefasst gewesen, wichtige Prinzipien wie, »wer verschmutzt, bezahlt«, und das Prinzip, zukünftigen Generationen keine unangemessenen Belastungen aufzubürden, seien nicht berücksichtigt worden.
Aus der Perspektive der meisten von der EU-Kommission befragten Fachleute ist Kernenergie nach aktuellem Stand aber eine sichere Sache, die das Kriterium »keinen bedeutsamen Schaden anrichten« erfüllt. Dieses »do no significant harm«-Kriterium ist in der aktuellen Debatte zentral. Es gilt der EU auch als eine Art konzeptionelle Untergrenze für das, was noch »nachhaltig« genannt werden darf.
72 Milliarden Euro Versicherungskosten pro Jahr
Völlig anders als für die Expertenteams der EU sieht dieses Thema offensichtlich aus der Perspektive der Branche aus, deren Geschäftsmodell auf der möglichst exakten Einschätzung von Risiken basiert. In Deutschland zum Beispiel sind Atomkraftwerke haftpflichtversichert, aber die Versicherungssumme ist bei einigen Hundert Millionen Euro gedeckelt. Bei einem GAU könnten die Schäden aber mal schnell tausendmal so hoch ausfallen.
Zitat aus einem zehn Jahre alten Artikel aus dem »Manager Magazin«: »›Die Kernenergie ist aber letztlich nicht versicherbar‹, sagte der Versicherungsexperte Markus Rosenbaum am Mittwoch in Berlin. Wollte eine Versicherung für ein AKW ausreichende Prämien innerhalb von 50 Jahren, beispielsweise der Restlaufzeit eines Meilers, aufbauen, müsse sie pro Jahr 72 Milliarden Euro für die Haftpflicht verlangen.«
72 Milliarden Euro Versicherungskosten pro Jahr, das ist teuer. Wie kann es dann sein, dass die Atomkraft in Deutschland weiterhin Fans hat, in anderen Ländern noch viel mehr?
Ganz einfach: Die Kernenergie hat eines gemeinsam mit der Kohlebranche: Die Schäden, die ihr Geschäftsmodell verursacht, und die Risiken, die es birgt, werden vergesellschaftet. Für die – statistisch betrachtet nach aktuellem Stand tatsächlich ziemlich kleinen, aber eben im Schadensfall katastrophalen – Risiken haftet im Zweifelsfall der Staat. Also wir alle.
Am Ende zahlen immer die gleichen Leute
Für die Entsorgung von strahlendem nuklearem Müll gilt das Gleiche: Ein Endlager für Atommüll gibt es in Deutschland bislang bekanntlich nicht, das weltweit erste entsteht gerade in Finnland. Was ein deutsches Endlager kosten wird, ist weitgehend unklar, ziemlich klar aber ist: Es wird höllisch teuer. Das Geld, das die AKW-Betreiber für die Zwischen- und Endlagerung zurückgelegt haben, wird bei Weitem nicht reichen. Am Ende zahlen immer die gleichen Leute: die Steuerzahler. Genauer: Nicht die Konzerne, die am Atomstrom verdienen, sondern die künftigen Generationen, die auch unter der Klimakrise, dem Rentensystem und anderen in die Zukunft verlagerten Problemen am meisten leiden werden.
Der Erderwärmung und die Zerstörung unserer natürlichen Ressourcen durch CO2-Ausstoß und Umweltverschmutzung sind große Bedrohungen für das Leben auf der Erde. Wir müssen unsere Welt erhalten und damit geht das Thema uns alle an. Und wir können etwas tun. Denn ein großer Teil der Probleme ist menschengemacht. Was sich ändern sollte und welche Beispiele Mut machen.
Probleme in die Zukunft verlagert
Die Parallelen zu den Unternehmen, die mit fossilen Brennstoffen ihr Geld verdienen, sind nicht zu übersehen. Vergesellschaftung negativer Externalitäten soweit das Auge reicht. Offen bleibt die Frage, wie etwas als »nachhaltig« eingestuft werden kann, das einmal mehr gravierende Probleme nicht löst, sondern in die Zukunft verlagert.
Vor diesem Hintergrund muss man die heftige Diskussion betrachten, die sich innerhalb der EU an einem auf den ersten Blick harmlosen Thema entzündet hat: Einer sogenannten Taxonomie zu der Frage, welche Arten von Investitionen aus der Perspektive der EU künftig als »nachhaltig« gelten. Man muss sich das wie eine Art Ökosiegel für Geldanlagen vorstellen: Wenn Sie in dieses Projekt investieren, tun Sie etwas fürs Klima und die Umwelt, im Einklang mit den »Green Deal«-Zielen der Europäischen Union.
Das Geld muss dahin, wo es am meisten bringt
So ein Gütesiegel könnte, dazu ist der Ruf der EU in solchen Fragen gut genug, weltweit als Verkaufsargument dienen. So sollen Geldströme dahin umgelenkt werden, wo man sie haben möchte: dorthin, wo eine nachhaltige, lebenswerte Zukunft entsteht. Ein solches Instrument kann eine Menge ausmachen: Der dramatische, Hoffnung machende globale Preisverfall im Bereich Fotovoltaik ist eine direkte Folge der zwischenzeitlich leider ins Stocken geratenen deutschen Energiewende.
Das Geld muss dahin, wo es den Markt in die richtige Richtung bewegt, dringend und schnell. Aber gehört in diese Kategorie auch Atomstrom? Der bleibt jedenfalls unverrückbar teuer. Während die Preise für Wind- und Sonnenstrom exponentiell fallen, ebenso wie die für Batteriekapazität.
Frankreich und diverse osteuropäische Staaten möchten gern, dass auch Atomkraft das grüne Siegel bekommt. Deutschland wollte, zumindest unter der gerade abgetretenen Regierung, auch Gaskraftwerke als »nachhaltig« deklarieren lassen. Letzteres ist offenkundig völlig widersinnig, schließlich ist auch Erdgas Roh-CO₂. Aber wie ist es mit der Atomkraft? Immerhin erzeugt die ja, zumindest bei der Stromerzeugung selbst, kaum Kohlendioxid?
Der miese Ruf der Atomkraft, selbst in Frankreich
Fragt man die Bevölkerung, ist die Sache ziemlich eindeutig. Für eine erst vor einem halben Jahr im Fachjournal »Energy Research & Social Science« erschienene Studie wurden in Deutschland, Frankreich, Norwegen und Großbritannien jeweils repräsentative Stichproben zu ihren Einstellungen zu Kernenergie befragt. In Deutschland (68 Prozent) und Norwegen (67 Prozent) lehnen mehr als zwei Drittel der Befragten diese Form der Energiegewinnung ab, und sogar im Atomstaat Frankreich (52 Prozent) tut dies eine Mehrheit. Einzig in Großbritannien lehnen nur 33 Prozent der Befragten Kernenergie ab, 22 Prozent wollen sich nicht festlegen, 45 Prozent stehen ihr positiv gegenüber.
Die eigentliche Fragestellung der Studie war aber eine andere: Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der Besorgnis hinsichtlich der Klimakrise und der Einstellung zur Atomkraft? Ändern die klimabewussten Europäer gerade ihre Haltung und wählen im Zweifel das vielleicht doch kleinere Übel, also Kraftwerke, die zwar strahlenden Müll, aber kein CO₂ produzieren?
Die Antwort ist eindeutig
Die Antwort ist eindeutig, und zwar in allen vier Ländern: Die Forschungsgruppe diagnostiziert »einen signifikanten negativen Zusammenhang zwischen Klimawandelbesorgnis und der öffentlichen Wahrnehmung der Nuklearenergie in allen vier untersuchten Ländern«.
Anders gesagt: Wer die Klimakrise fürchtet, fürchtet tendenziell auch die Atomkraft, und zwar auch in Frankreich, dem Land mit dem weltweit höchsten Anteil an Kernenergie im Stromnetz. Im Jahr 2015 lag der Anteil der Atomkraft an der französischen Stromversorgung bei 78 Prozent.
So sieht die Debatte über die Frage, ob Kernkraft ein Investment-Ökosiegel bekommen soll oder nicht, plötzlich ganz anders aus: Es handelt sich nicht nur um eine sehr teure Form der Energiegewinnung, die Länder in eine fortgesetzte geopolitische Abhängigkeit von Uranlieferanten wie Russland bringt, statt sie endlich aus solchen Fesseln zu befreien. Und um eine Form der Energiegewinnung, deren grundlegende Entsorgungsprobleme weiterhin ungelöst sind.
So ein Siegel wäre ziemlich wertlos
Investitionen in Kernkraft sind zudem eben nicht »grün« – jedenfalls nicht in den Augen vieler Menschen, die den Klimawandel als zentrales Problem begriffen haben. Ein Nachhaltigkeitssiegel für Investitionen, unter dessen Deckmantel sich auch Investments in AKWs verstecken können, wäre deshalb für viele, die das Thema derzeit am meisten interessiert, ziemlich wertlos. Wie eins von den zahlreichen Öko– oder Biosiegeln, denen man auch nicht mehr so recht traut.
Folgerichtig erklärte Fridays for Future Deutschland am Freitag, dass Bundeskanzler Olaf Scholz nicht »als ersten außenpolitischen Akt die Greenwashing-Offensive der Gas- und Atomlobby« unterstützen dürfe. Die EU-Kommission hat die Entscheidung gerade noch ein weiteres Mal ein bisschen aufgeschoben.
Investiert ruhig!
All das oben Aufgeführte bedeutet übrigens nicht, dass man an den angeblich viel sichereren Miniaturreaktoren der Zukunft, die nicht nur Risiken, sondern auch die Atommüllproduktion reduzieren sollen, nicht weiterarbeiten sollte. Jedes Mittel im Kampf gegen die Zerstörung des Planeten durch Erhitzung der Luft und Versauerung der Meere ist im Zweifel willkommen. Aber in so etwas investieren Leute wie Bill Gates ja sowieso.
»Nachhaltig« ist eine Technologie, deren Müllproblem weiter weltweit ungelöst ist, derzeit aber definitiv nicht.