SPIEGEL: Ermittler verzeichnen bei der Jagd auf Pädokriminelle im Darknet zunehmend Erfolge. Trotzdem steigt die Menge an Kindesmissbrauchsaufnahmen im Netz immer weiter an, im Jahr 2020 waren es mehr als 65 Millionen Bilder. Was wollen Sie als EU-Innenkommissarin dagegen unternehmen?
Johansson: Diese Zahlen und das Ausmaß sind erschütternd. Hinter jedem der Videos und Bilder verbergen sich schreckliche Verbrechen gegen Kinder. Ich fürchte, den meisten Europäern dürfte jedoch noch immer nicht klar sein, wie groß dieses Problem ist. Wir wollen deshalb ein Gesetz erlassen, mit dem auch ein neues europäisches Zentrum gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder gegründet werden soll.
AdvertisementSPIEGEL: Wie könnte das dabei helfen, die Bilder und Videos aus dem Netz zu bekommen?
Johansson: In dem Zentrum könnte eine zentrale Datenbank beheimatet sein, in der digitale Fingerabdrücke jener Bilder und Videos gespeichert sind, die von Ermittlungsbehörden als illegal bewertet wurden. Internetfirmen könnten mithilfe dieser Datenbank Kindesmissbrauchsaufnahmen in ihrem System entdecken und deren Verbreitung stoppen. Wir hätten dann eine europäische Version von NCMEC.
SPIEGEL: Sie meinen die amerikanische Kinderschutzorganisation »National Center for Missing and Exploited Children« (NCMEC). Das müssen Sie uns bitte erklären, was das bringen soll.
Johansson: In den USA ist jedes Internetunternehmen verpflichtet, mit dem NCMEC zusammenzuarbeiten. Das Zentrum pflegt eine Datenbank mit diesen digitalen Fingerabdrücken, sogenannten Hash-Werten. Internetdienste stellen damit fest, ob Kindesmissbrauchsaufnahmen auf ihre Server hochgeladen werden. Das NCMEC arbeitet außerdem eng mit dem FBI zusammen. So hilft ein solches Zentrum auch, mehr Täter zu fassen.
SPIEGEL: Recherchen von SPIEGEL und NDR zeigen, dass auch die Strafverfolgungsbehörden mehr tun müssten, zum Beispiel die von ihnen im Darknet entdeckten Missbrauchsaufnahmen melden. Denn die Unternehmen, auf deren Server das Material eigentlich liegt, wissen oft gar nichts davon.
Johansson: An das neue EU-Zentrum könnten auch Behörden nach Abschluss ihrer Ermittlungen Bilder und Videos melden. Die Aufnahmen sind schrecklich und wir müssen alles tun, um ihre Verbreitung zu stoppen. Das Material retraumatisiert die Betroffenen und außerdem steigert es die Nachfragen nach weiteren Aufnahmen, was dann wiederum zu neuem Missbrauch führt.
SPIEGEL: Was müsste noch geschehen?
Johansson: Oft höre ich in den Debatten zu diesem Thema, dass weitere Maßnahmen, zum Beispiel das Filtern von Inhalten, die Privatsphäre unterminieren. Aber ich finde, wir dürfen nicht akzeptieren, dass wir nicht beides schützen können: Privatsphäre und Kinder.
SPIEGEL: In den Debatten um Vorratsdatenspeicherung, Hintertüren in Verschlüsselung oder Upload-Filter sorgen sich die Kritiker vor allem um Kollateralschäden für normale, legale Kommunikation. Wenn Ermittlungsbehörden illegale Inhalte erkannt haben und dann durch eine Meldung an das EU-Zentrum sichergestellt würde, dass die nicht wieder im Netz landen, ist das doch ein zielgerichteter Ansatz. Solchen Maßnahmen dürften doch keine Bedenken zur Privatsphäre im Weg stehen.
Johansson: Ja, da stimme ich Ihnen zu.
SPIEGEL: Soll das neue EU-Zentrum noch mehr tun, außer eine zentrale Datenbank betreiben?
Johansson: Ja, wir sollten bei diesem Thema nicht vergessen, welche Maßnahmen noch online und außerhalb des Netzes möglich wären. Das EU-Zentrum könnte Untersuchungen und Expertise für alle EU-Mitgliedsstaaten bereitstellen, mehr Aufmerksamkeit für das Thema schaffen und sich auf Prävention konzentrieren, damit Pädophile nicht zu Kriminellen werden. Und schließlich könnte das Zentrum auch den Betroffenen helfen, die fürchten müssen, dass ihr Missbrauch im Netz gelandet ist. Die Betroffenen zu unterstützen und mit ihnen zu arbeiten, ist entscheidend in diesen schrecklichen Situationen, denn allzu oft geben sie sich auch noch selbst die Schuld. Was die Pädokriminellen getan haben, versuchen sie oft auch noch zu normalisieren und zu legitimieren. Dabei ist es einfach nur falsch und ein Verbrechen.