Kheder versucht ruhig zu sprechen, als er aus der Lagerhalle in Bruzgi anruft. In dem belarussischen Ort, etwa einen Kilometer von Polen entfernt, sitzen der Syrer und etwa 1700 andere Flüchtlinge weiterhin fest. Zwei Männer, einer in der Uniform eines Grenzbeamten, einer in Zivil, seien zu ihm gekommen. »Ihr müsst euch entscheiden: Entweder werdet ihr bald abgeschoben oder an die Grenze gebracht.«
Es ist kaum mehr als eine Woche her, da präsentierte sich Machthaber Alexander Lukaschenko noch inmitten der Migrantinnen und Migranten in Bruzgi und versprach sie zu unterstützten. Doch nun scheint das Regime seinen Kurs zu ändern und die Menschen aus dem Nahen Osten außer Landes drängen zu wollen.
AdvertisementTod an der Grenze oder Tod zu Hause
»Sie stellen uns hier nun vor die Wahl zwischen dem Tod an der Grenze bei den Minustemperaturen und dem Tod zu Hause.« Mehr als zwölf Menschen sind inzwischen im Grenzgebiet gestorben. Kheder sagt, er wolle nicht wieder dazu benutzt werden, Druck auf Polen auszuüben. Und nach Syrien könne er auch nicht so einfach zurück, er werde dort von den Sicherheitsbehörden gesucht. Er habe sich – wie sein Kollege – geweigert, an der Präsidentschaftswahl im Mai teilzunehmen. Der Mann sei inzwischen verschwunden.
Menschen stehen in Bruzgi an, um etwas zu Essen zu bekommen
Foto: Oksana Manchuk / AP
Kheders verzweifelter Anruf ist kein Einzelfall. Mehrere Syrer und Iraker berichten dem SPIEGEL unabhängig voneinander von Ultimaten, die ihnen belarussische Sicherheitsbeamte am Freitag gestellt hätten. Immer habe es geheißen: »Abschiebung oder wieder an die Grenze«.
»Wir müssen die Halle in drei Tagen räumen«, habe ihm ein Mann in olivgrüner Uniform gesagt, schreibt der Nordiraker Jaf, 28 Jahre. Mhamad, 40 Jahre, Ehemann und dreifacher Vater, ebenfalls aus dem Irak, sagt: »Wir sollen alle gehen, haben sie gedroht.« Die Europäische Union habe Minsk keine Hilfe in Aussicht gestellt, deshalb müssten die Menschen nun gehen, habe es geheißen.
Die EU hatte in dieser Woche neue Sanktionen gegen die belarussische Führung verhängt und damit Lukaschenko deutlich gemacht, dass sie sich nicht von ihm erpressen lassen wird. Der hatte über Monate Menschen aus dem Nahen Osten mit Touristenvisa ins Land locken und ihnen den Weg Richtung EU ebnen lassen – mit dem Kalkül, so über die Lockerung von Strafmaßnahmen verhandeln zu können. Diese Strategie ist nicht aufgegangen.
Lukaschenko hatte mehrmals davon gesprochen, dass Berlin 2000 Geflüchtete aufnehmen solle, das aber hatte die deutsche Regierung abgelehnt. Brüssel hat stattdessen Gelder für die humanitäre Versorgung und Rückflüge der Menschen zur Verfügung gestellt.
Hunderte Menschen warten auf Flugzeug aus Erbil
Inzwischen haben Dutzende Irakerinnen und Iraker aus den kurdischen Gebieten die Halle an der Grenze verlassen, berichten mehrere Gesprächspartner. Die Menschen seien zum Flughafen nach Minsk gebracht worden. Dort harrten seit Tagen Hunderte aus, am Freitag kamen noch weitere Hunderte Menschen hinzu, wie Abdul aus Erbil am Telefon zählt. »Die Menschen wurden teils von der Polizei aus Wohnungen geholt, teils von zivilen Beamten vor Geldautomaten im Zentrum festgenommen und hierher gebracht.«
Iraker warten am Flughafen in Minsk auf ihren Flug zurück
Foto: Ramil Nasibulin / Handout / EPA
Auf Bildern, die Flüchtlinge schickten, war zu sehen, wie die Menschen dicht an dicht auf dem Boden schliefen. Allein Wasser stellte der Airport zur Verfügung, wie Abdul sagt. Am Samstagnachmittag verließ schließlich ein Flugzeug von Iraqi Airways mit mehr als 400 Passagieren an Bord Minsk in Richtung Erbil. Doch für die anderen Menschen wie Abdul, die ebenfalls zurückwollen, war kein Platz mehr in der Maschine. Wann ein weiteres Flugzeug aus dem Irak nach Belarus kommen werde, sei unklar, auch wer die Menschen versorge. Viele haben seit Tagen nicht mehr gegessen, sagt Abdul. Bisher hat der Irak insgesamt mehr als 2000 Menschen ausgeflogen.
Abdul hatte sich freiwillig bei der irakischen Botschaft für den Rückflug gemeldet: »Mir war das Risiko zu hoch, jetzt im Winter es noch über die Grenze zu versuchen.« Doch noch immer versuchen die Menschen, in die EU zu gelangen, wie der polnische Grenzschutz jeden Tag meldet. Tausende Geflüchtete halten sich weiter in Belarus auf.
Große Angst, entdeckt zu werden
Der Syrer Kheder klingt immer verzweifelter am Telefon. Für ihn und andere Syrer werde Belarus immer mehr zu einer Falle. »Wo sollen wir hin?« Dass er und andere Asyl im Land bekommen könnten, daran glauben die wenigsten. Außerdem müssten sie sich dann an die belarussischen Behörden wenden, denen aber traue niemand mehr.
Deshalb verstecken sich Syrer wie Zyad, der bittet, seinen wirklichen Namen nicht zu schreiben. Er hat große Angst, entdeckt und festgenommen zu werden. Er stammt aus der syrischen Stadt Kusseir im Gebiet Homs, lebte die letzten Jahre im Libanon. Als er von dort aus im September nach Minsk flog, drückten ihm die Grenzbeamten einen Stempel mit einem Einreiseverbot in den Pass – für drei Jahre darf er das Land nun nicht betreten. Warum er das nicht mehr dürfe, habe man ihm nicht sagen wollen, sagt Zyad.
Damals glaubte er noch, es nach Polen schaffen zu können. Doch jetzt, nach neun Versuchen, hat der 38-Jährige kaum noch Hoffnung. 28 Tage habe er im Niemandsland zwischen polnischen und belarussischen Truppen eingeklemmt ausgeharrt, habe Wasser aus Tümpeln getrunken, nichts zu essen gehabt, sagt er. Jetzt versteckt sich der Syrer in einem kleinen Ort bei Minsk. In der belarussischen Hauptstadt habe er die Miete nicht mehr zahlen können, sagt er. Wie es weitergeht? »Ich weiß es einfach nicht.«