SPIEGEL: Herr Thym, von der Grenze zwischen Polen und Belarus gab es zuletzt bedrückende Bilder polnischer Grenzbeamter, die Geflüchtete mit Wasserwerfern weg vom Grenzzaun trieben. Dabei wollen viele der Geflüchteten gar nicht in Polen bleiben, sondern weiter nach Deutschland ziehen. Übernehmen polnische Grenzschützer derzeit die Drecksarbeit für uns?
Thym: In gewisser Weise ja. Flüchtlinge dürfen ja nicht einfach so abgewiesen werden.
SPIEGEL: Unter keinen Umständen?
Thym: Zumindest an den offiziellen Grenzübergangsstellen muss man diese Menschen anhören und ihr Anliegen prüfen. Polen macht das nicht und verletzt damit das europäische Recht. Allerdings macht die Situation an der polnischen Grenze letztlich nur etwas sichtbar, was auch sonst traurige Realität ist: Wir verhindern teils mit sehr robusten Mitteln, dass Geflüchtete die Grenzen erreichen. Meistens geschieht das fernab der Fernsehkameras. Wir wollen in Europa immer noch die Guten sein. Indem wir bedrohten Menschen an sich Schutz versprechen. Gleichzeitig verhindern wir, dass diese Menschen überhaupt nach Europa kommen. Zum Beispiel durch die Unterstützung der libyschen Küstenwache; oder dadurch, dass wir Syrern nicht erlauben, ohne Visum ein Flugzeug nach Deutschland zu besteigen – und das bekommen sie halt nicht.
SPIEGEL: Bietet der Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition einen Ausweg für die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze?
Thym: Vor allem zeigt er das Dilemma. Da steht: »Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.« Und gleich danach: »Die EU und Deutschland dürfen nicht erpressbar sein.«
»Dass man das zumindest prüfen will, ist erstaunlich«
SPIEGEL: Das klingt doch gut.
Thym: Aber es widerspricht sich. Wenn »llegale Zurückweisungen« enden sollen, dann bestimmt eben doch letztlich der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko, wie viele Personen in die EU einreisen. Die Ampel versucht nun die Quadratur des Kreises, indem man auf »rechtsstaatliche Migrationsabkommen mit Drittstaaten« setzt.
SPIEGEL: Was ist damit gemeint?
Thym: Dahinter steckt ein Vorschlag des Politikberaters Gerald Knaus: Die Ukraine oder andere Nicht-EU-Staaten sollen die Menschen aufnehmen, um dort Asylverfahren durchzuführen. Dass eine Regierung unter Beteiligung der Grünen diesen Weg zumindest »prüfen« will, ist jedenfalls erstaunlich. Die Debatte wird derzeit vor allem von Dänemark, Österreich und Großbritannien forciert. Dort aber mit der Zielrichtung, das Individualrecht auf Asyl weiter zu relativieren.
SPIEGEL: Aber wenn es keinen anderen Ausweg gibt?
Thym: Es ist nur scheinbar ein Ausweg. Asylverfahren in und von Drittstaaten durchführen zu lassen, ist zwar theoretisch möglich. Aber erstens gab es solche Versuche schon früher – es war aber bisher kein Drittstaat bereit, die Menschen aufzunehmen. Zweitens bleibt unklar, was nach dem Asylverfahren geschehen soll. Bei Schutzbedarf müsste eine Verteilung auf die EU-Staaten beschlossen werden, was außerhalb Deutschlands kaum noch jemand will. Abgelehnte Asylbewerber wären zurückzuführen, etwa Kurden in den halbwegs sicheren Nordirak. Auch das klappt bekanntlich nur bedingt. Die Hoffnung, die vermutlich dahintersteckt: dass es abschreckend wirkt, also die Aussicht eines Lebens in der Ukraine weniger attraktiv ist als eine Duldung mit Arbeitsrecht und Legalisierungsoption in Deutschland.
»Eine genauso zweischneidige Sache wie bisher auch«
SPIEGEL: Der Koalitionsvertrag spricht insgesamt von einem »Paradigmenwechsel« in der Asyl- und Migrationspolitik – sehen Sie den?
Thym: So pauschal nicht. Es ist überfällig, dass eine Bundesregierung ganz selbstverständlich von Deutschland als »Einwanderungsland« spricht. Aber auch in einem Einwanderungsland bleiben Einreiseregeln umstritten, wie man etwa an den USA sieht. Interessant ist die Formel, dass man eine »aktive und ordnende Politik« betreiben werde, die »irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration ermöglichen« soll. Das zeigt, dass das im Grunde eine genauso zweischneidige Sache ist wie bisher auch.
SPIEGEL: Können Sie das näher erklären?
Thym: Schon Kanzlerin Angela Merkel wollte ja »ordnen« und »illegale« durch »legale« Migration ersetzen. Zugleich kündigt der Koalitionsvertrag eine »Rückführungsoffensive« an. Das erinnert an die »nationale Kraftanstrengung«, die bereits Angela Merkel versprochen hatte und die trotz aller Bemühungen kein durchschlagender Erfolg wurde. Ein »Neuanfang« ist das also nicht, sondern eine moderate Weiterentwicklung dessen, was schon frühere Regierungen gemacht hatten.
SPIEGEL: Was wären denn Beispiele für das »moderne Einwanderungsland« des neuen Koalitionsvertrages?
Thym: Praktisch äußerst bedeutsam ist, dass Migranten sich nun bereits nach fünf statt bisher nach acht Jahren einbürgern lassen können. Bei »besonderen Integrationsleistungen« soll das sogar schon nach drei Jahren möglich sein.
SPIEGEL: Das ist die »Turbo-Einbürgerung«, die auch der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) fordert, dessen stellvertretender Vorsitzender Sie sind.
Thym: Ja, aber die Fristen sind nun nochmals kürzer. Man kann also künftig sehr viel schneller den deutschen Pass erhalten. Außerdem wird es leichter. So wird künftig die doppelte Staatsangehörigkeit erlaubt. Und im Streit zwischen »Multikulti« und »deutscher Leitkultur« justiert die Ampel auch an einer symbolisch wichtigen Stelle nach: Ehegatten aus Nicht-EU-Staaten dürfen erstmals seit 15 Jahren wieder nachziehen, ohne vorher Deutsch gelernt zu haben.
Verdeckter »Spurwechsel«
SPIEGEL: Was ist mit dem viel diskutierten »Spurwechsel« von der Asyl- in die Arbeitsmigration?
Thym: Einen »Spurwechsel« verspricht der Koalitionsvertrag offiziell nicht. Tatsächlich findet aber genau das statt: Die FDP wollte, dass eine Fachkraft während des Asylverfahrens eine reguläre Aufenthaltserlaubnis erhalten kann. Das wird realisiert. Den Grünen und auch Teilen der SPD ging es vor allem um ein deutlich erweitertes Bleiberecht für abgelehnte Asylbewerber – und auch das kommt: Die Bleibemöglichkeiten werden ausgeweitet, indem man die Fristen für die bestehenden Programme senkt und neue Möglichkeiten schafft. Dadurch werden künftig noch sehr viel mehr Menschen nach einem erfolglosen Asylverfahren ganz legal in Deutschland bleiben dürfen.
SPIEGEL: Nun finden ja zentrale Weichenstellungen in der Asylpolitik auf europäischer Ebene statt. Dabei ist die Migrationssteuerung innerhalb der EU weitgehend gescheitert: Die sogenannten Dublin-Regeln funktionieren in der Praxis nicht, für eine Reform fanden sich bisher keine Mehrheiten. Wie verhält sich die Ampel dazu?
Thym: In Brüssel hat sich der Wind drastisch gedreht. Luxemburg, Portugal und Deutschland gelten als letzte Verfechter einer humanitären Asylpolitik. Die meisten anderen fordern mehr oder weniger offen eine Abschottung. Geworben wird für eine Legalisierung von Pushbacks, wozu die Kommission in Kürze einen Vorschlag vorlegen wird. Alle Mittelmeeranrainer fahren die Seenotrettung zurück und drangsalieren private Rettungsdienste. Die neue Regierung sieht das anders. Sie fordert eine staatlich koordinierte Seenotrettung und will eine »faire Verteilung« von Flüchtlingen. Dafür zu kämpfen, ist ehrenhaft. Leider sind die Chancen aber gering, für die meisten Punkte eine Mehrheit in Brüssel zu finden.
»Klingt schön, enthält aber wenig Substanz«
SPIEGEL: Im Koalitionsvertrag ist in den Passagen zur europäischen Asylpolitik viel von »wollen« die Rede – erinnert das ein wenig an Till Eulenspiegel, der sagte, er wolle vom Rathausdach fliegen, und dann zugab »Ich will, aber ich kann nicht«?
Thym: Ja, diese Passagen klingen allesamt schön, enthalten aber wenig Substanz. Die »illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden« – aber wie? Es gab ja schon einmal den sogenannten Malta-Mechanismus von 2019, mit dem eine »Koalition der Willigen« schiffbrüchige Personen verteilen wollte. Die erhoffte Dynamik blieb freilich aus. Nur sehr wenige Länder dürften aktuell noch bereit sein, freiwillig erneut mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
SPIEGEL: Aus der Union gab es scharfe Kritik. Fraktionschef Ralph Brinkhaus prangerte eine »brutale Offenheit« der Ampel gegenüber Migration an und äußerte »ganz, ganz große Sorge«, dass die Ampel-Vereinbarungen »ein Pull-Faktor für ganz, ganz viel illegale Migration sein wird«. Sehen Sie das auch so?
Thym: Die Ampel ist viel näher am Kurs der letzten Bundesregierungen unter Frau Merkel, als manchem vermutlich lieb ist – sowohl in der Union als auch innerhalb der Ampel. Ganz zentrale Themen werden zudem im Koalitionsausschuss landen. Das nicht minder wichtige Tagesgeschäft wird von den zuständigen Ministerien gemanagt werden. Das Lenkrad hält hierbei das SPD-Innenministerium in Händen, und auch der designierte FDP-Justizminister dürfte entsprechend Einfluss nehmen. Die Grünen sind da erst einmal außen vor – was manchen vielleicht noch schmerzlich bewusst werden wird.