Der deutsche Botschafter bei der EU, Michael Clauß, warnt die zukünftige Bundesregierung davor, wichtige europapolitische Themen auf die lange Bank zu schieben. Ausgerechnet in der Phase, in der Berlin nur eingeschränkt handlungsfähig ist, »erleben wir in Brüssel eine Häufung kritischer Themen«, schrieb Clauß nach Informationen des SPIEGEL vergangene Woche an das Auswärtige Amt. Im Streit um Energiepreise und Migration seien keine Lösungen in Sicht, der Konflikt mit Polen könnte schlimmstenfalls im Polexit enden, und mit Großbritannien drohe ein Handelskrieg.
Der rasante Anstieg der Energiepreise habe einen »massiven Streit über die richtige Antwort« ausgelöst, schreibt Clauß. Die EU zerfalle in drei Lager: Der Norden sehe kein Marktversagen und deshalb auch keinen Handlungsbedarf, der Süden und Frankreich forderten finanzielle Hilfen und einen Umbau des Energie-Binnenmarkts, Osteuropa mache die Klimaschutzmaßnahmen der EU für die Probleme verantwortlich.
Hilflos an der Corona-Front
Erste Intensivstationen können keine Covid-Patienten mehr aufnehmen. Es fehlt an Betten und vor allem an Personal, nachdem die Politik an der falschen Stelle gespart hat. Viele Pflegekräfte sind erschöpft. Dem System droht der Kollaps.
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Das Thema werde den Gipfel der Staats- und Regierungschefs Mitte Dezember beschäftigen, doch »eine Einigung zeichnet sich nicht ab«, warnt Clauß. Die Lage sei so verfahren, dass über das »Fit for 55«-Klimaschutzpaket – laut Clauß das »mit Abstand gewaltigste Legislativvorhaben« der EU-Kommission in diesem Jahrzehnt – auch unter der EU-Ratspräsidentschaft Frankreichs im ersten Halbjahr 2022 mit keiner Einigung zu rechnen sei.
Erfolgreich werde Frankreich aber wohl mit dem Versuch sein, die Kernkraft in der EU künftig »als grüne Energie der Zukunft« fördern zu lassen. Dies werde »von der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten entweder unterstützt oder ist für diese akzeptabel«, so Clauß. Kürzlich hatte auch schon Noch-Kanzlerin Angela Merkel eingeräumt, dass Deutschland die Einstufung der Kernkraft als grüne Technologie wohl nicht mehr verhindern könne.
Abschotten oder grundsätzlich offenbleiben?
Neuer Ärger droht auch in der Migrationsfrage, die wegen der Krise an der belarussisch-polnischen Grenze auf der Gipfel-Tagesordnung auftauchen dürfte. Clauß sieht das Problem darin, dass es nicht um Geld gehe, sondern »um die politische Grundsatzfrage, ob sich die EU gegen Migranten und Flüchtlinge abschotten oder grundsätzlich offenbleiben soll«. Auch hier sei eine Einigung »nicht in Sicht«.
Dies gelte auch für den Rechtsstaatskonflikt mit Polen. Durch das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, das nationales über europäisches Recht gestellt hat, sei der Konflikt mit der EU »massiv eskaliert«. Die EU-Kommission weigert sich derzeit, 37 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds an Polen auszuzahlen.
Warschau habe daraufhin gedroht, die EU bei wichtigen Vorhaben zu blockieren, so Clauß. Das polnische Vorgehen rüttele »an den Grundfesten der EU« und sei »nicht hinnehmbar«, andererseits drohe eine »unkontrollierbaren Dynamik«, die sogar zum Austritt Polens aus der EU führen könne.
Großbritannien bereitet der EU derweil trotz des Brexits weiter Probleme. Es werde immer deutlicher, dass London das mit der EU ausgehandelte Nordirland-Protokoll nicht umsetzen wolle. »Für die EU stellt sich die Frage von möglichen Vergeltungsmaßnahmen«, so Clauß. »Ein Handelskrieg scheint nicht mehr ausgeschlossen.«
Koalitionsvertrag soll »Bekenntnis zu föderalem Europa« enthalten
Ob die Warnung des Botschafters in Berlin gehört wird, ist keineswegs sicher. »Im Bundestagswahlkampf kam die EU praktisch nicht vor«, sagt Damian Boeselager, Europaabgeordneter der Partei Volt. »Man hatte das Gefühl, Deutschland würde nicht mitten in Europa liegen, sondern allein durchs All schweben.« Doch über die großen Herausforderungen – etwa die Frage nach einer gemeinsamen Verschuldung der EU-Länder und einem europäischen Finanzminister – »trauen sich die Parteien nicht einmal zu reden«, so Boeselager.
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner fordert von der künftigen Bundesregierung ein entschlosseneres Vorgehen. »Viele ungelöste, immer wieder aufgeschobene Herausforderungen auf europäischer Ebene führen zu einem fast permanenten Krisenmodus«, so Brantner. »Die Ampel hat die Aufgabe, sie jetzt mit voller Kraft anzugehen.«
Immerhin scheint sich in Berlin der Blick auf Europa zu ändern. Nach jetzigem Stand soll der Koalitionsvertrag der Ampelparteien sogar »ein ausdrückliches Bekenntnis zu einem föderalen Europa enthalten«, wie ein Verhandlungsteilnehmer sagte.
»Die Berliner Politik lernt nur langsam, dass sie nicht Nabel der Welt ist – aber sie lernt es«, sagt Jens Geier, Chef der SPD-Gruppe im EU-Parlament und einer der Unterhändler bei den Berliner Gesprächen. Zwar sei man »noch lange nicht so weit, dass Europa so behandelt wird, wie es seine Bedeutung erfordern würde«. Im Vergleich zu den Verhandlungen zur Großen Koalition von 2017 gebe es aber »einen Unterschied wie Tag und Nacht«, sagt Geier. »Die Parteien sind sich einig, dass es nicht mehr der deutsche Standpunkt sein soll, keinen zu haben.«