1. Redner: Lothar Wieler, RKI-Präsident, besorgt über neue Coronazahlen
Die Sprache der Diplomatie folgt ihren eigenen Regeln. Zeigt der Außenminister sich “besorgt”, “ernsthaft besorgt” oder gar “tief besorgt”? Wenige Silben können aus Freunden Feinde machen, zumindest aber für “Irritationen” sorgen, vielleicht sogar für “schwerwiegende”.
Nun hat nicht Heiko Maas seine Sorge bekundet, sondern Lothar Wieler vom Robert Koch-Insitut, seine “große Sorge” sogar, und zwar angesichts der Corona-Fallzahlen – 3611 in den vergangenen sieben Tagen. Man wird keine diplomatische Note riskieren mit dem Verdacht, dass die Worte des Präsidenten viele Leute mehr beschäftigen als die meisten Maas-Sätze der vergangenen Monate (Reisewarnungen und ähnliches natürlich ausgenommen).
“Wir sind mitten in einer sich rasant entwickelnden Pandemie”, sagt Wieler. Aber es gibt offenbar nicht nur Anlass zur Sorge, sondern auch zur Hoffnung: Er sei optimistisch, dass wir eine zweite Welle verhindern könnten – wenn wir uns an die AHA-Regeln halten: Abstand, Hygiene, Atemschutz.
AdvertisementWie mein Kollege Benjamin Bidder aus dem Wirtschaftsressort berichtet, wäre das auch ökonomisch sinnvoll: Die Stimmung bei den Betrieben hellt sich auf. “Dem steilen Absturz könnte ein ähnlicher Anstieg folgen – das herbeigesehnte ‘V’ in der Konjunkturentwicklung.” Eine zweite Corona-Welle würde aber alles zunichtemachen.
2. Redner: Douglas Macgregor, Trumps neuer Mann für Berlin
Apropos Diplomatie: Nach dem Rückzug des umstrittenen Botschafters Richard Grenell glaubten viele in Berlin, mit dem nächsten amerikanischen Vertreter am Pariser Platz könne im deutsch-amerikanischen Verhältnis eigentlich alles nur besser werden. “Wenn sie sich da mal nicht getäuscht haben”, schreibt mein Kollege Roland Nelles, unser Washington-Korrespondent.
Donald Trump hat für den Posten jetzt den pensionierten Armeeoberst Douglas Macgregor nominiert. “Einen Mann, der Grenell in seiner Ergebenheit zu Trump wohl in nichts nachsteht”, analysiert Roland. Wie Grenell war Macgregor in Washington lange ein Außenseiter, der nun doch noch eine Chance erhält mitzuspielen. “In Berlin dürfte der neue Mann ähnlich entschieden für Trumps außenpolitische Agenda eintreten wie sein Vorgänger, wenn auch vielleicht mit etwas anderen Mitteln und einem diplomatischeren Stil.” Dass er die Nato mal einen “Zombie” nannte, könnte die Hoffnung allerdings ein wenig dämpfen.
Ob Macgregor den neuen Posten überhaupt antritt, wird davon abhängen, wer die Wahl im November gewinnt. Roland hat auch mit dem Politstrategen Jim Messina gesprochen, einem früheren Berater Barack Obamas. Der legt sich fest: “Die Wähler haben sich entschieden, Trump zu feuern.”
3. Redner: Gunnar Lindemann, AfD-Verkehrsexperte auf Schlingerkurs
“Darüber lacht die Welt” – an die Erfolgsshow Hape Kerkelings musste ich heute morgen denken. Für einen Moment war ich nicht sicher, ob er sich gerade für ein Comeback als Horst Schlämmer bei der AfD eingeschleust hatte. Denn der Berliner AfD-Abgeordnete Gunnar Lindemann schimpfte bei Twitter über den “täglichen Genderwahnsinn: Jetzt werden sogar Fahrspuren gegendert“. Ausgelöst hatte seinen Furor eine Überschrift des Berliner Boulevardblatts B.Z.: “Frau übersieht Fahrspurende und fährt in Baustelle.”
Der Mann, der bei seinen Leuten als Verkehrsexperte gilt, scheint ideologisch festgefahren. Er empfiehl der B.Z., es mal mit der “guten alten Duden-Rechtschreibung” zu versuchen, statt mit “diesem links-grünen Ideologien”. Diesem Tippfehler wird er wohl als provokativen Kontrapunkt eingebaut haben.
Was dann geschah, lässt sich unter der Überschrift “Darüber lacht das Netz” ganz gut zusammenfassen.
Zugegeben, wir beim SPIEGEL gehören nicht unbedingt zur Avantgarde, was geschlechtergerechte Sprache betrifft. In der Diskussion über unsere Arbeit stritten wir lange über die Frage: Verabschieden wir uns vom generischen Maskulinum als Standard? Wir haben diese Frage mit Ja beantwortet; wir streben an, in unseren Texten beide Geschlechter abzubilden. Natürlich gelingt das nicht immer (zumal einem der Ausdruck “beide Geschlechter” wahrscheinlich um die Ohren gehauen würde). Aber die Frauen weiterhin einfach “mitzumeinen”, wenigstens das wollten wir nicht länger.
An ernsthafter Diskussion zu gendergerechter Sprache haben AfD-Leute wie Lindemann wenig Interesse. Ihnen dient das Thema als Gag, mit dem sie gegen die angebliche “politische Korrektheit” mobilisieren – darauf können sich in der zutiefst zerstrittenen Partei alle einigen, sagt meine Kollegin Ann-Katrin Müller, im Hauptstadtbüro zuständig für die AfD. “Damit hoffen sie auch, den Anschluss an das konservative Lager nicht zu verlieren.” Selbst aus der Blamage versuchen der Twitternde und seine Mithelfenden noch eine Kampagne zu machen. Unter dem Hashtag #Stauende behaupten sie: “Kein Mensch spricht so.”
Auf die Häme reagierte Lindemann mit einem Duden-Screenshot, der belegen soll, “Fahrspurende” sei kein richtiges Wort. “Der Kampfbegriff ‘Genderwahnsinn’ steht allerdings auch nicht im Duden”, sagt Ann-Katrin. Vielleicht sollte dieser Twitternde über ein Twitterende nachdenken.
Mein Lieblingsinterview heute: Schweizer Ex-Bundespräsidentin über Drogenpolitik
Nach einem guten Gespräch weiß man mehr als vorher, vielleicht blickt man sogar anders auf die Welt. Das gilt im Alltag, aber auch für journalistische Gespräche, finde ich. Mein Kollege Marco Evers hat mit der ehemaligen Schweizer Bundespräsidentin Ruth Dreifuss über Drogen gesprochen, allein das klang interessant.
Was sie sagt, ist noch interessanter: Der Krieg gegen die Drogen sei “voll und ganz gescheitert”. Dreifuss, 80, war von 1994 bis 2002 Chefin des Schweizer Ministeriums für Gesundheit, Soziales und Kultur, 1999 war sie Bundespräsidentin. Seit 2016 steht die Sozialdemokratin der “Weltkommission für Drogenpolitik” vor. Sie findet: “Repression wirkt nicht. Der Drogenkonsum hat sich fast weltweit verschlimmert, und ebenso die gesellschaftlichen Probleme, die von den Drogen ausgehen.”
SPIEGEL Update – Die Nachrichten
Was heute sonst noch wichtig ist
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Wirecard-Skandal: BaFin-Chef Felix Hufeld hat die Abgeordneten falsch informiert. Das zeigen SPIEGEL-Recherchen. In der Affäre um Wirecard machte der Chef der Finanzaufsicht falsche Angaben im Finanzausschuss des Bundestags. Seine Behörde gab dies nun zu.
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Aufstieg der Familie Quandt: Der Historiker Joachim Scholtyseck hat die Geschichte der Quandts untersucht, eine der größten deutschen Unternehmerdynastien. Günther Quandt machte aus einer mittelständischen Tuchfirma einen Weltkonzern – dabei half ihm die Nähe zu den Nazis. Doch später stellte er sich als Opfer des NS-Regimes dar.
Was heute nicht so wichtig ist
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Hundstrage: Die Bernhardiner-Hündin Daisy, 55 Kilo schwer, jedenfalls im metrischen System, hat sich von 16 Bergrettern den Scafell Pik hinabschleppen lassen, wie die Bergwacht mitteilte. Das Tier hatte sich beim Abstieg vom höchsten Berg Englands plötzlich geweigert weiterzulaufen, vielleicht wegen Schmerzen in den Beinen. Die Helfer mussten demnach einiges an Überzeugungsarbeit leisten: “Offensichtlich schämte sie sich ein bisschen.”
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: “1.000.000 davon sind eine Milliarde” (Zu sehen war ein 100-Euro-Schein.)
Cartoon des Tages: Quarantäne nach dem Urlaub
Und heute Abend?
Vielleicht den Studio-Talk meines Kollegen Markus Feldenkirchen gucken? Er spricht mit Ruprecht Polenz, dem Social-Media-Star der CDU. Der erreicht über Twitter und Facebook Hunderttausende – und steht für eine klare Kante gegen die AfD. Twitter und AfD, da war doch was? Egal, hier sehen Sie die Sendung.
In diesem Sinne: erst den Tag ausklingen lassen, dann den Talk einschalten.
Ihnen einen schönen Abend. Herzlich,
Ihr Oliver Trenkamp
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