1. Politisches Organversagen in den USA
Vier Millionen Corona-Infizierte verzeichnen die Vereinigten Staaten jetzt, binnen sechs Wochen hat sich die Zahl verdoppelt. Die Weltmacht USA scheitert bei der Bewältigung der Gesundheitskrise im Innern. Man muss ein multiples politisches Organversagen diagnostizieren, Behörden, Regierung und Helfer arbeiten nicht mit-, sondern zum Teil gegeneinander; die Bundesstaaten wurschteln vor sich hin.
An der Spitze steht Donald Trump, der “Leader of the free World”, der sich weigert zu führen. Der eratisch Ansagen macht, dessen Appelle sich widersprechen. (Wenigstens in der Maskenfrage ist er fürs Erste umgeschwenkt). Die obskuren Auftritte häufen sich (“person”, “woman”, “man”, “camera”, “TV”); er enttäuscht selbst hartgesottene Anhänger, seit sein Versagen im Kampf gegen die Pandemie immer offensichtlicher wird.
Unsere US-Korrespondenten, die Kollegen Guido Mingels, Roland Nelles, Ralf Neukirch, René Pfister und Marc Pitzke, erforschten den Stimmungswandel in den USA:
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Ralf befragte Cynthia Lee Sheng, Kommunalpolitikerin aus Louisiana. Die Republikanerin ist empört, dass der Präsident monatelang Schutzmasken lächerlich gemacht hat. “Jeder, der eine Vorbildfunktion hat, sollte eine Maske tragen.”
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Marc sprach mit Demonstranten, gegen die Trump vielerorts Bundestruppen aufmarschieren lässt.
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Und René traf im republikanischen Texas den Gastronomen Adam Duran, dessen Bar wegen Corona geschlossen wurde und der auch deswegen im November nicht Trump wählen will. “Angesichts der selbst verschuldeten Krise”, sagt René, “muss Trump-Herausforderer Joe Biden wenig unternehmen.”
Kurzum: Für seine Wiederwahl braucht US-Präsident Trump ein Wunder. Und er hat offenbar schon eine Idee.
2. Ängstlicher Blick in die Corona-Tabelle
Vier Millionen Infizierte in den USA – wenn ich solche Corona-Zahlen höre oder lese, dann ertappe ich mich oft beim Blick auf die Tabelle: Wo steht Deutschland gerade? (Hier finden Sie die Listen und alles Wichtige zur Pandemie.) Der innere Zyniker blickt auf das Leid wie der Fußballfan auf WM-Ergebnisse.
Angenehm niedrig lagen die Zahlen hierzulande in den vergangenen Wochen, jetzt aber melden die Gesundheitsämter 815 neue Infektionen – der höchste Wert seit Mitte Mai, abgesehen vom Ausbruch beim Fleischkonzern Tönnies. Und: Anders als im Fall Tönnies fehlt diesmal ein größerer Ausbruch, der sich klar zuordnen lässt. Von “kritischen Signalen” spricht der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit: “Die Infektionsketten sind schwieriger nachvollziehbar und nicht so leicht zu unterbrechen.”
Hat der Anstieg auch mit Urlaubsrückkehrern zu tun? Es deutet zumindest einiges darauf hin. In Baden-Württemberg kamen die Infizierten vor allem aus Balkanländern, in Hamburg aus der Türkei. Ein SPIEGEL-Team hat recherchiert, wie groß die Gefahr durch das “tödliche Urlaubsmitbringsel” ist. “Ich war überrascht, dass Einreisende selbst aus Risikogebieten bislang kaum kontrolliert werden”, sagt mein Kollege Felix Bohr.
Zumindest das soll sich jetzt ändern: Die Gesundheitsminister haben heute beschlossen, dass Rückkehrer aus Risikogebieten sich künftig schon am Flughafen testen lassen können. Wer kein negatives Ergebnis vorweisen könne, müsse in häusliche Quarantäne. Auch alle anderen Rückreisenden können sich demnach binnen 72 Stunden testen lassen, allerdings nicht am Flughafen. Die Kosten teilen sich Bund und Länder, die Getesteten zahlen nichts. (Was auf Reisende zukommt, lesen Sie hier im Detail.)
Das Robert Koch-Institut appellierte ob der Zahlen erneut: Halten Sie sich bitte an Abstands- und Hygieneregeln. Tragen Sie Masken!
Ein Leser schrieb mir, nachdem ich gestern Maskenverweigerer kritisiert hatte: “Vielleicht hilft es, wenn die Medien ab und an die Menschen loben, die sich an die Regeln halten.” Da hat er Recht: Danke, dass Sie Maske tragen!
3. Klingt nach Absurdistan, ist aber AfD
Ist das Hochstapelei? Ein Fake? Das haben sich meine Kollegin Ann-Katrin Müller und mein Kollege Joseph Röhmel zu Beginn der Recherche für diese Geschichte gedacht: Eine Islamfeindin spionierte in Moscheen und diente sich dem bayerischen Verfassungsschutz an. Nun arbeitet sie für die AfD im Bundestag. Der Deckname der Informantin war Maja, ihre Tarnung der Nikab.
“Der Fall klang so absurd”, sagt Ann-Katrin. Man will sich ja eigentlich nicht vorstellen, dass der Verfassungsschutz mit Informanten arbeitet, die ideologisch so klar zuzuordnen sind. “Aber tatsächlich war es so.”
Die Doppelmoral der AfD findet sie immer wieder erstaunlich: “Einerseits den Verfassungsschutz als Regierungsschutz verunglimpfen und es andererseits aber toll finden, wenn jemand mit dem Geheimdienst arbeitet, der ins Weltbild passt.”
Meine Lieblingsgeschichte heute: Die kranken Kinder von Moria
Eigentlich ist “Meine Lieblingsgeschichte” die falsche Überschrift, aber es ist die Geschichte, die mich heute am meisten berührt hat. Meine Kollegin Maria Stöhr berichtet über Kinder, die im wohl bekanntesten griechischen Flüchtlingslager zur Welt kommen:
“Moria ist, erst mal, der Ort, an dem vieles zu Ende geht: die Flucht übers Meer, der Glaube an ein humanitäres Europa, die Hoffnung, dass das, was kommt, besser wird.
Moria ist, auch, der Ort, an dem Leben neu beginnt. Kinder werden geboren, sie gehen ihre ersten Schritte, sie bilden ihre ersten Silben.”
In einem EU-Staat hausen 20.000 Notleidende in einem Lager, das für 3000 gedacht war. Nicht provisorisch für ein paar Wochen, sondern über Monate und Jahre. Man kann in der Diskussion über Flüchtlinge unterschiedlicher Meinung sein; dass in Europa Kinder so leiden müssen, halte ich für ein Armutszeugnis.
Maria schreibt auch über die Arbeit des Fotografen Murat Türemis, er reist seit Jahren auf die griechischen Inseln und porträtiert Kinder, die in den Camps leben. Als er die kleine Saraya fotografiert, ist sie schwer krank: Sie hat ein Loch im Herzen, braucht dringend eine OP. Nach Monaten bangen Wartens für die Eltern und das Kind ist der Eingriff nun auf unbestimmte Zeit verschoben worden, wegen Corona.
Was ein bisschen Hoffnung macht: Die Aufnahme kranker Kinder aus den überfüllten Lagern geht voran, wenn auch langsam. Am Freitagvormittag landete auf dem Kassel Airport im nordhessischen Calden eine Maschine mit 17 kranken Kindern und ein Jugendlicher, begleitet von einigen Familienmitgliedern, insgesamt 83 Flüchtlinge.
SPIEGEL Update – Die Nachrichten
Was heute sonst noch wichtig ist
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Die Pleite der Wirecard AG wird zur deutschen Regierungsaffäre. Trotz vieler Warnungen setzten sich Kanzleramt und Finanzministerium für den Konzern ein. SPD-Abgeordnete fordern nun einen Untersuchungsausschuss – und bringen Olaf Scholz in Gefahr.
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Ohne Corona hätten jetzt die Spiele in Tokio begonnen. Wegen der Verschiebung durchleiden viele Sportler eine psychische Krise – wie kommen sie da wieder raus?
Was heute nicht so wichtig ist
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Untersagt, getan: Die Schauspielerin Gwyneth Paltrow, 47, scheint die drei wichtigsten Regeln der Kindererziehung (1. Seien Sie ein gutes Vorbild. 2. Seien Sie ein gutes Vorbild. 3. Seien Sie ein gutes Vorbild.) nicht zu beherzigen. Von ihrem Nachwuchs, Apple, 16, und Moses, 14, veröffentlicht sie voller Mutterstolz gern Bilder auf Instagram. Den beiden Teenagern verbietet sie jedoch den Betrieb eines eigenen Youtube-Kanals und anderer Socialmedia-Accounts, wie sie in einem Podcast kundgetan hat. “Ich versuche, sie so gut wie möglich aus der Öffentlichkeit rauszuhalten.”
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: “Die beiden haben bei einem Gericht in Los Angeles Klage eingereicht, weil es sich auf seinem Anwesen von Paparazzi belästigt fühlen.”
Cartoon des Tages: Willkommen zurück
Und am Wochenende?
Einer Empfehlung meines Kollegen Wolfgang Höbel folgen, was eigentlich immer eine gute Idee ist. Jetzt hat er sich die ZDF-Serie “Sløborn” angeschaut, sie schildert, wie eine Epidemie auf einer deutschen Insel ausbricht – und sich friedliche Provinzler in gewalttätige Wutmenschen verwandeln. “Das ist nicht sehr subtil, aber packend”, sagt Wolfgang. In der Mediathek hier zu finden.
In diesem Sinne: erst ausschlafen, dann ab auf die Insel.
Ihnen ein schönes Wochenende! Herzlich,
Ihr Oliver Trenkamp
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