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EU-Gipfel: Europaparlament droht mit Veto gegen Haushalt und Corona-Paket

Fast fünf Tage haben die EU-Staats- und Regierungschefs über den nächsten Siebenjahreshaushalt der EU und das Corona-Wiederaufbaupaket verhandelt, am Ende waren alle voll des Lobes über andere und sich selbst. Nur im Europaparlament herrscht Katerstimmung. Viele Abgeordnete fühlen sich von den Staats- und Regierungschefs offen missachtet, ja gedemütigt: Ihre Positionen waren vor dem Gipfel klar formuliert, Parlamentspräsident David Sassoli hatte sie den Gipfelteilnehmern zu Beginn noch einmal persönlich erläutert.

Das hätte sich der Italiener auch sparen können. Bei den anschließenden Verhandlungen spielten die Forderungen des Parlaments keine Rolle mehr. Stattdessen ging es nahezu ausschließlich darum, wie man die Interessen der 27 EU-Staaten unter einen Hut bekommt. “Über das Parlament”, sagte ein EU-Diplomat während des Gipfels, “können wir uns hinterher Sorgen machen.”

Dieser Moment ist jetzt gekommen.

Am Donnerstag debattierten die Abgeordneten über eine Resolution, die es in sich hat: Das Parlament “akzeptiert die politische Einigung auf den Haushalt für 2021 bis 2027 in seiner jetzigen Form nicht”, heißt es darin. Es ist die offene Drohung mit dem Veto.

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Michel und von der Leyen werben

In der Plenardebatte versuchen EU-Ratspräsident Charles Michel und Kommissionschefin Ursula von der Leyen alles, um die Parlamentarier von dem Deal zu überzeugen. “Jeder musste etwas geben, um etwas zu bekommen”, sagt Michel. “Die europäische Antwort ist größer als die der USA und Chinas.”

“Es ist entscheidend, dass das Europaparlament voll zu Wort kommt”, fügt von der Leyen hinzu – und beklagt “bedauerliche Kürzungen bei vielen Programmen, die wichtigen europäischen Mehrwert bieten”. Eine “bittere Pille” sei dieser Mehrjahreshaushalt.

Dass von der Leyen den Parlamentariern nach dem Mund redet, verwundert nicht: Das Parlament muss dem Mehrjahresbudget zustimmen und sich mit dem Wiederaufbaufonds zumindest befassen. Solange beides nicht geschieht, ist die Einigung der Staats- und Regierungschefs wenig wert.

Andererseits: Kaum jemand kann sich vorstellen, dass das Parlament den Deal wirklich ablehnt. Die Abgeordneten sind in der gleichen Zwickmühle wie viele der Staatenlenker beim Gipfel: Wenn sie darauf bestehen, ihre Lieblingsthemen durchzusetzen, gefährden sie die rasche Auszahlung der Corona-Hilfsgelder etwa an Italien oder Spanien.

Durchwinken will das Parlament das Gipfelergebnis deshalb aber nicht. Manfred Weber (CSU), der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, antwortet direkt auf von der Leyen. “Liebe Ursula, wir sind derzeit nicht bereit, die bittere Pille zu schlucken”, sagt er. Er beklagt, dass 90 Prozent der 750 Milliarden Euro im Wiederaufbaufonds direkt in die Haushalte der Mitgliedstaaten gingen – und nicht in europäische Projekte.

Auch der Liberale Dacian Ciolos verlangt, mit europäischen Schulden europäische Projekte zu finanzieren. Die Fraktionschefin der Sozialdemokraten, Iratxe García Pérez, hingegen trägt vor allem Lob vor. Kein Wunder: Ihr Heimatland Spanien wartet dringend auf die Corona-Milliarden aus Brüssel. Der Linken-Fraktionsvorsitzende Martin Schirdewan schimpft dagegen: “Anstatt eines ambitionierten Aufbauplanes bekommen wir jetzt ein Instrument, das weiter auf die falsche Politik des Sparens und Kürzens setzt.”

Grünenpolitiker Philipp Lamberts kritisiert die “Geizhälse” unter den EU-Staaten. Als “ekelhaft” bezeichnete er zuvor gegenüber dem SPIEGEL das Vorgehen des niederländischen Regierungschefs Mark Rutte und seines österreichischen Kollegen Sebastian Kurz. “Sie wollen vom EU-Binnenmarkt profitieren, aber nicht bezahlen”, so Lamberts.

Abgeordnete fordern Nachbesserungen

In seiner Resolution verlangt das Parlament nun umfangreiche Nachbesserungen am Haushalt, vor allem in drei Bereichen:

  • Rechtsstaatlichkeit: Den Passus zum Schutz der EU-Grundwerte hält das Parlament für unzureichend. Staaten, die gegen rechtsstaatliche Standards verstoßen, sollen künftig EU-Mittel gekürzt werden.

  • Zukunftsprogramme: Das Parlament will Kürzungen bei Forschung, Klimaschutz, Migrationspolitik oder dem Studentenförderprogramm Erasmus rückgängig machen.

  • Eigenmittel: Die Abgeordneten fordern neue eigene Geldquellen für die EU.

Das Ergebnis der Abstimmung über die Resolution wurde für den späten Nachmittag erwartet, eine Mehrheit gilt als sicher.

Die Rechtsstaatlichkeit steht für viele Abgeordnete an erster Stelle. Sie pochen auf die Einführung eines Mechanismus, der schon beim Gipfel diskutiert wurde. Er soll es ermöglichen, einem Land die EU-Mittel zu kürzen, wenn es systematisch die Rechtsstaatlichkeit untergräbt. Eine entsprechende Entscheidung der Kommission sollte der Rat der Mitgliedsländer nur noch mit einer sogenannten umgekehrten qualifizierten Mehrheit kippen können – wenn 15 Länder mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung dagegen sind.

Es wäre eine scharfe Waffe gewesen. Doch Ungarn und Polen, die wohl als Erste ins Visier einer solchen Regelung geraten wären, haben das erfolgreich verhindert. In der Gipfel-Anschlusserklärung steht nun nicht einmal mehr eine abgestumpfte Version des Mechanismus, sondern gar keiner mehr. Stattdessen heißt es dort, dass die Kommission Maßnahmen vorschlagen werde, die der Rat der Mitgliedsländer absegnen solle.

Gemeint ist damit eine Verordnung, die dem Rat schon seit mehr als zwei Jahren vorliegt. Sie enthält den Rechtsstaatsmechanismus in der ursprünglichen, wirksamen Variante. Ungarn oder Polen könnten sie nicht per Veto verhindern, da der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet – und nicht einstimmig, wie die Staats- und Regierungschefs. Allerdings ist es gut möglich, dass es Orbán gelingt, im Rat eine Sperrminorität zu organisieren. Zudem steht im Gipfeldokument auch, dass die Staats- und Regierungschefs “schnellstens” wieder auf das Thema zurückkommen werden. In Ungarn und Polen wird das so interpretiert, dass am Ende doch das Einstimmigkeitsprinzip gilt.

Die Abgeordneten fordern nun Klarheit: Der Mechanismus soll mit der umgekehrten qualifizierten Mehrheit aktiviert werden, heißt es in ihrer Resolution. Und sicherheitshalber betonen sie noch, dass das Parlament die Verordnung ebenfalls absegnen muss.

Mehr Eigenmittel für die EU

Für Ärger im Parlament sorgt auch, dass die Staats- und Regierungschefs zukunftsorientierte Programme zusammengestrichen haben. Forschung, Klimaschutz, Migrations-, Außen- und Sicherheitspolitik sowie das Studentenförderprogramm Erasmus sind nach Meinung der Abgeordneten nun deutlich unterfinanziert.

Noch nicht mal vor dem EU4Health-Programm, mit dem sich die EU besser auf Pandemien und andere grenzüberschreitende Gesundheitsprobleme vorbereiten will, machte der Rotstift der Regierungschefs Halt. Der dafür vorgesehene Betrag soll von 9,4 Milliarden auf 1,7 Milliarden Euro sinken. “Unverantwortlich”, nennt das der CDU-Gesundheitsexperte Peter Liese. Noch schwerer würden die Einschnitte bei Forschungsprogrammen wie Horizon wiegen, so der Europaparlamentarier. “Wer 2025 weniger in Forschung investieren will als 2015, der hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden”, sagt Liese.

Zudem fordert das Parlament gleich einen ganzen “Korb von neuen Eigenmitteln“. Die geplante Plastiksteuer sei “nur ein erster Schritt”, heißt es in der Resolution. Schon in der ersten Hälfte der nächsten Haushaltsperiode von 2021 bis 2027 soll es einen “rechtsverbindlichen Kalender” geben, der neue Eigenmittel einführt, darunter:

  • Einnahmen aus dem Emissionshandelssystem, mit dem der Ausstoß von Treibhausgas bepreist wird,

  • eine CO2-Grenzsteuer auf Importe aus dem Ausland, die klimaschädlich hergestellt wurden,

  • eine Digitalsteuer auf Gewinne von Techriesen wie Amazon, Apple oder Microsoft in der EU,

  • eine Finanztransaktionssteuer.

Die Abgeordneten wollen damit nicht nur die Abhängigkeit der EU von den Geldern der Mitgliedsländer verringern. Sie sorgen sich auch um künftige EU-Haushalte. Der Grund sind die Schulden, welche die EU für das 750 Milliarden Euro schwere Corona-Wiederaufbaupaket aufnehmen will. Gibt es keine höheren Eigenmittel, so die Befürchtung des Parlaments, könnten sie nur durch höhere Beiträge der Mitgliedsländer getilgt werden – oder indem künftige EU-Haushalte noch stärker zusammengekürzt werden als der kommende.

Icon: Der Spiegel

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