Guten Abend, das sind die drei Fragezeichen heute:
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Läuft bei denen: Kinder mit Schniefnase in die Kita schicken?
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Effizient abgeschoben: Wieso setzt die EU in ihrer Flüchtlingspolitik auf die McKinsey-Methode?
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Dokument mal: PDFs lassen sich fälschen?
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1. Fassen wir uns an die eigene Schniefnase
Der Herbst belegt in der Rangfolge der beliebtesten Jahreszeiten meist den vierten Platz. In diesem Jahr dürften das vor allem Mütter und Väter kleiner Kinder so sehen – sowie Erzieherinnen und Erzieher, wie meine Kollegin Heike Klovert berichtet (und wie ich aus dem allernächsten privaten Umfeld bestätigen kann): “Die Coronakrise potenziert den Stress, den Eltern vorher schon hatten.” Wenn die Angst vor der zweiten Infektionswelle wächst, wird jede Schniefnase schnell zum Verdachtsfall – und die Schniefnasenträger müssen zu Hause bleiben.
Ein Problem, für das es keine einfache Lösung zu geben scheint: Die Eltern fürchten um ihren Job, wenn im Homeoffice die Kinder mehr Energie fressen als der Kostenvoranschlag, der zum Kunden muss. Die Erzieher fürchten um ihre Gesundheit, wenn sie kranke Kinder ja nicht einfach nur “betreuen”, sondern sie wickeln, füttern, in den Arm nehmen. Einige Bundesländer reichen das Problem durch an die Kitas.
Manche Eltern greifen in ihrer Verzweiflung dann zu Medikamenten: Sie geben ihrem fiebernden Kind ein Zäpfchen und bringen es zur Kita. “Das erzählen uns dann zum Beispiel ältere Geschwister”, sagt ein Erzieher, mit dem Heike gesprochen hat. “Das Fieber geht vormittags wieder hoch, und das Kind muss abgeholt werden.”
Ein, Verzeihung Wortwitz, Gradmesser für das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Erziehern ist, ob sich so etwas offen besprechen lässt – und ob sich Eltern gegenseitig helfen: Könnt ihr mein Kind nehmen, es ist krank, aber wichtiger Termin, für zwei Stunden? Nächste Woche nehme ich eures.
Eine Mutter in Heikes Text sagt: “Wir haben als Mütter und Väter auch eine Verantwortung für andere Familien, nicht nur für unsere eigene. Wenn Kinder krank in die Kita gehen, vergrößert sich das Problem.” Das ist noch keine Lösung, aber aus meiner Sicht der richtige Gedanke.
2. Flüchtlingspolitik mit Beratermethoden: Lässt sich Not wegrationalisieren?
In meinem Regal steht das Buch “Unser effizientes Leben” des Kollegen Dirk Kurbjuweit (Kaufangebot), es geht um “eine Gesellschaft, die mehr und mehr geprägt wird vom Effizienzdenken”. Und besonders fanatische Propheten der Effizienz arbeiten bei McKinsey, heißt es im Vorwort. Ihr Denken ist längst in unseren Köpfen, schreibt Dirk, was macht das mit uns?
Wie weit das McKinsey-Denken reicht, zeigen gemeinsame Recherchen des SPIEGEL und des Balkan Investigative Reporting Network: Als die Umsetzung des Flüchtlingspakts mit der Türkei stockte, als Tausende Migranten auf den griechischen Inseln feststeckten, da engagierte die EU die Unternehmensberatung, berichten meine Kollegen Maximilian Popp, Alexander Sarovic und Luděk Stavinoha. Ohne Ausschreibung, aber für ein Honorar von 992.000 Euro sollten die Berater helfen, den “Rückstau” an Asylgesuchen zu beseitigen. Oberste Leitlinie auch hier: die “Produktivität maximieren”, die Effizienz steigern.
“McKinsey hat mit mehreren europäischen und griechischen Behörden zusammengearbeitet”, sagt Alex. “Am erstaunlichsten ist, dass sich dort heute niemand mehr zuständig zu fühlen scheint. Keiner äußerte sich auf Anfrage zu den Maßnahmen, die McKinsey vorgeschlagen hatte.”
Flüchtlingshilfe mit den Mitteln der Powerpoint-Klicker – ob das eine gute Idee ist? “Wenn überall und von jedem effizient gehandelt wird, kommt etwas Falsches dabei raus”, schreibt Dirk in seinem Buch. Es ist fast 20 Jahre alt.
3. +++ Filemeldung +++
Zu den angenehmeren Folgen der Corona-Pandemie gehört: Es gibt weniger Papierkram, jedenfalls beim SPIEGEL. Selbst Chefredakteure, die früher am liebsten mit dem Bleistift auf Din-A3-Bögen herumgekritzelt haben, redigieren jetzt auf dem iPad. Ähnliches melden andere Firmen: Im Homeoffice lernen Rechnungen und Verträge keinen Füller mehr kennen, sie fristen eine gestaltlose Existenz als PDF-Dokument.
Dumm nur, dass PDFs (genauer: PDF-Reader) weit weniger sicher sind, als Laien wie ich gedacht haben. Das haben Forscher jetzt herausgefunden, der Kollege Jörg Breithut es für unser Netzweltressort aufgeschrieben: Betrüger können relativ leicht jemanden dazu bringen, Dokumente digital zu signieren, in denen später etwas ganz anderes steht. “So ist auf einer digital signierten PDF-Rechnung beispielsweise zunächst der vereinbarte Betrag sichtbar. Wenn das Opfer unterschreibt, könnten die Betrüger die Summe im Nachhinein auswechseln und mehr Geld kassieren.” Kriminelle verschießen nicht allzu schnell ihre File.
Mein Lieblingsinterview heute: Ein Arzt mit Herz fürs Pflegepersonal
Die Pandemie allgegenwärtig, die EM verschoben – da haben die Deutschen umgeschult, so wirkt es: 80 Millionen Bundestrainer avancierten zu 80 Millionen Virologen und Intensivmedizinern, die sich beim Bier über Aerosole und Beatmungsgeräte unterhalten, nicht über Startaufstellungen.
Wir haben damit die falschen Akzente gesetzt, zumindest teilweise, sagt Hermann Reichenspurner, Direktor der Herz- und Gefäßchirurgie an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf, den mein Kollege Martin U. Müller zum Interview getroffen hat. Der Arzt räumt mit einigen Mythen auf: “Es ist ganz viel über Intensivbetten und über angeblich fehlende Beatmungsgeräte geredet worden”, sagt Reichenspurner. “Die wichtigere Frage nach ausreichend Pflegekapazitäten wurde nur sehr selten gestellt, weil Politiker und die meisten ‘Spezialisten’ nicht wissen, wie ein Krankenhaus funktioniert.”
Offen spricht er über das Missverhältnis der Gehälter von Ärztinnen und Ärzten einerseits und den Pflegekräften andererseits. Überraschend auch für Martin: “Ausgerechnet ein Arzt in dieser Position setzt sich für die Belange des Pflegepersonals ein. Normalerweise schweben die lieber im Chefarztolymp und praktizieren dort Eminenz-basierte Medizin.”
Ist das Land denn gerüstet für eine drohende zweite Welle? Martin schätzt, dass die Politik immerhin verstanden hat, wie wenig es bringt, einfach mehr Beatmungsgeräte zu bunkern. “Da das Problem der Personalnot in der Pflege aber den Überraschungseffekt eines Busfahrplans hat, wird sich wohl auch in naher Zukunft nicht viel ändern.”
SPIEGEL Update – Die Nachrichten
Was heute sonst noch wichtig ist
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Ex-Wirecard-Chef erneut verhaftet: Die Staatsanwaltschaft hat Markus Braun erneut festnehmen lassen, zwei frühere Vorstände ebenfalls.
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Festgenommener Yves R. versteckte sich offenbar in Erdlöchern: Raus ging er nur nachts, die Tage verbrachte er in Gruben und Erdlöchern. Die Ermittler haben neue Details über die Flucht im Schwarzwald bekannt gegeben. Proviant hatte er demnach nicht dabei.
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Scheuer will europäische Pkw-Maut durchsetzen: Der Bundesverkehrsminister ist mit seinem Konzept einer deutschen Pkw-Maut krachend gescheitert. Nun will er offenbar eine europaweite Autobahngebühr einführen.
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Äthiopien füllt erstmals umstrittenen Nil-Staudamm: Seit Jahren streitet das Land mit Ägypten über ein gigantisches Staudammprojekt, nun hat Addis Abeba Fakten geschaffen. Der geopolitische Konflikt könnte zur diplomatischen Krise werden.
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Quallen erobern die Ostsee: 2020 könnte für die Ostsee zum Quallenjahr werden, berichten Forscher. Verschiedene Bedingungen im Wasser begünstigen eine anormale Vermehrung der Tiere.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Der Kinderarzt Klaus Rodens rechnet damit, dass die Covid-19-Fälle demnächst wieder stark ansteigen werden. “Unser System wird zusammenbrechen”, sagt er voraus. Was schlägt er vor?
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Joe Arpaio galt als härtester Sheriff der USA. Jetzt träumt er davon, wieder für Zucht und Ordnung zu sorgen. Unser Reporter Ralf Neukirch hat Trumps besten Mann in Arizona getroffen.
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Fünf Jahre nach dem Flüchtlingssommer wollen viele Syrer dauerhaft hierbleiben. Wie haben sie sich verändert – und wie Deutschland? Hier erzählen sie von ihrem Alltag und ihren Plänen.
Was heute nicht so wichtig ist
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Die Leine los: Der Hund von Orlando Bloom, 43, mit dem Namen Mighty weilt jetzt beim Allmächtigen, wie der Schauspieler via Instagram-Video mitteilte. Um des bellenden Schmerzes Herrchen zu werden, hat sich der Mime den Namen des Pudels auf die Brust tätowieren lassen, auch das ist in dem Clip zu sehen. Das Tier sei jetzt “auf der anderen Seite”.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: “Ansonsten hat er seinen Vater schon ins Fußballstation begleitet und dabei auch kräftig mitgejubelt”
Cartoon des Tages: “Bestimmt wieder der Scheuer”
Und heute Abend?
Vielleicht mal wieder Massive Attack anmachen. Es klingt zwar nicht direkt nach Empfehlung, was mein Kollege Andreas Borcholte über die neue EP sagt, lohnen könnte es sich trotzdem: “Die Band hat mit #Eutopia den Schritt vom Pop-Act zum politischen Projekt vollzogen.” Die Musik spiele fast nur noch die Rolle “eines Emotionen verstärkenden Soundtracks, die konstruktive Botschaft steht im Vordergrund”. (Seine ganze Kritik lesen Sie hier.)
Nichts fürs Radio oder für den Dancefloor, sagt Andreas. “Aber als künstlerisches Statement ist es interessant, wenn nicht wegweisend.” Jemandem wie mir, der in den Neunzigern musikalisch sozialisiert wurde, bleibt eh nichts anderes übrig, als wenigstens reinzuhören.
In diesem Sinne: erst Abendessen, dann massive Töne.
Herzlich,
Ihr Oliver Trenkamp
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