1. Die Nullen stehen, die Ellenbogen regieren
Ein Billionen-Paket, ein Milliarden-Programm und dann noch Milliarden-Zuschüsse – vielleicht sollten wir die Zahlen einmal auseinanderklamüsern, auf die sich die EU geeinigt hat:
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Fangen wir klein an: Nur 25 Minuten fehlten, und es wäre der längste Gipfel der EU-Geschichte geworden. (Den Rekord hält weiter das Treffen von Nizza im Jahr 2000 mit 91 Stunden und 45 Minuten.)
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Kommen wir zur neuen Standardeinheit Milliarde: 750 Milliarden Euro gibt es für ein Konjunktur- und Investitionsprogramm gegen die Corona-Folgen.
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Davon wiederum gibt es 390 Milliarden als Zuschüsse, die niemand zurückzahlen muss. Und 360 Milliarden Euro gibt es als Kredite, die zumindest theoretisch irgendwann beglichen werden müssen.
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Der sonstige Haushalt für die kommenden 7 Jahre beträgt 1074 Milliarden Euro.
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Macht zusammen: 1,8 Billionen Euro. Damit hat die EU das größte Haushalts- und Finanzpaket ihrer Geschichte beschlossen. (12 Nullen hat eine Billion, auf Englisch heißt sie Trillion, was zu einigem Durcheinander führen kann, wenn man nicht aufpasst.)
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Einen ausführlichen Überblick finden Sie hier.
Jetzt liegen die Zahlen also auf dem Tisch (wahrscheinlich neben den Köpfen der ermatteten Verhandler). Und plötzlich wollen alle gewonnen haben, schreiben meine Kollegen Markus Becker und Peter Müller. Die beiden Korrespondenten haben in den vergangenen Tagen immer wieder in die Hinterzimmer gehorcht und die die Ergebnisse analysiert:
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Die Kanzlerin hat ihren Deal, darauf kam es ihr an.
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Der Süden bekommt sein Geld, der Norden hohe Beitragsrabatte.
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Und Ungarns Regierungschef Orbán muss in Sachen Rechtsstaat erst mal wenig fürchten.
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Die Kommission darf erstmals selbst Schulden machen – ein Machtzuwachs.
“Wenn eines diesen Gipfel versinnbildlicht, dann Ellbogen“, sagt Markus. “Die Staats- und Regierungschefs begrüßten sich am ersten Tag mit Ellenbogenchecks und ließen dieses Körperteil bis zum Gipfelende beidseitig ausgefahren.” Ihm zufolge ging es um nationale Interessen: “Dann kam lange nichts, und als die meisten Milliarden verteilt waren, ging es noch ein wenig um das Interesse der EU.”
Markus findet, die EU hat die einmalige Chance verspielt, sich ein wirksames Instrument gegen die Feinde des Rechtsstaats in ihren eigenen Reihen zuzulegen (seinen Kommentar lesen Sie hier). Aber es stimmt eben auch, dass nach langem Streit wieder ein tragfähiger Kompromiss steht. In Europa regieren keine Nullen.
2. Ran an die Fleischtöpfe
Die schönste Überschrift über Sigmar Gabriel und seine Beratertätigkeit für Tönnies stand vor gut zwei Wochen in der FAZ: “Die Kunst des Ausschlachtens”. Der Ex-Minister selbst sagte damals so schöne Sätze wie: “Für normale Menschen sind 10.000 Euro viel Geld. Aber in der Branche ist das kein besonders hoher Betrag.”
Jetzt hat mein Kollege Lukas Eberle Weiteres zu der Wurst-Connection Gabriels recherchiert. Demnach pflegte der SPD-Politiker offenbar schon während seiner Zeit als Wirtschafts- und Außenminister gute Kontakte zu Deutschlands größtem Fleischkonzern und dessen Chef, Clemens Tönnies. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Frage eines Linken-Bundestagsabgeordneten hervor, die dem SPIEGEL vorliegt. “Die Zahl der Gespräche und deren Anlässe liefern möglicherweise eine weitere Erklärung für Gabriels jüngstes Engagement für die Tönnies Holding”, schreibt Lukas.
Konfrontiert mit Fragen zu der Recherche, teilte eine Anwältin Gabriels mit, dass man jeden Zusammenhang zwischen seiner Ministertätigkeit und der Beratung des Konzerns bestreite. Die Unterstellungen seien ungeheuerlich. Die Gründe für Gabriels Tätigkeit für das Unternehmen in diesem Frühjahr seien bekannt und öffentlich berichtet worden. Laut eigener Auskunft soll sich Gabriel um Exportgenehmigungen für den asiatischen Markt gekümmert haben.
Wenn Sie sich selbst ein Bild machen wollen davon, wie die Wurst gemacht wird, kann ich das Stück von Lukas nur sehr empfehlen.
3. Terroranschlag von Halle: Ein “Anon” vor Gericht
Neun Monate nach dem Terroranschlag von Halle hat der Prozess gegen den Angeklagte Stephan Balliet, 28, begonnen. Ein Hubschrauber brachte ihn aus dem Gefängnis nach Magdeburg, wo er sich vor den Landgericht für den Versuch verantworten muss, in der Synagoge von Halle ein Blutbad anzurichten. Weil er damals nicht hineingekommen war in die Synagoge, erschoss er auf der Straße Jana L. und in einem Imbiss Kevin S.
Zum ersten Mal steht mit Balliet ein “Anon” wegen rechtsterroristischer Morde vor einem deutschen Gericht, das ist meinem Kollegen Max Hoppenstedt aus dem Netzwelt-Ressort aufgefallen. Denn um ehrlich zu sein: Nicht jeder in der Redaktion weiß, was ein “Anon” ist. Max erklärt: “So nennen sich Foren-Nutzer aus der Online-Subkultur der sogenannten Imageboards.” Dort hetzten oft jüngere, weiße Männer; sie äußern sich sexistisch, rassistisch und antisemitisch. Eine wichtige Szene für den Angeklagten, ähnlich wie bei den Attentätern von Christchurch und El Paso.
Also hat Max mit dem Forscher Flemming Ipsen gesprochen, der untersucht hat, wie gezielt Rechtsextreme im Netz rekrutieren und sogar Kindern ihr Gedankengift unterjubeln. “Ipsen hat sich nicht nur Facebook angeschaut, sondern die ganze Bandbreite an Foren”, sagt Max. Die überraschendste Erkenntnis: “Dass Rechtsextreme strategisch bestimmte Spiele ausgucken, um Jugendliche anzusprechen.” Beim “Battlefield”-Zocken chatten die mit anderen Gamern und verherrlichen etwa Amokläufe oder verspotten Anne Frank. Ipsen mahnt Eltern: “Reden Sie mit Ihrem Kind darüber, was es im Netz so tut.”
Mein Lieblingsinterview heute: Die Reporterinnen, die den Weinstein-Skandal enthüllten
Von Harvey Weinstein kannten Millionen Kinozuschauer bis vor einigen Jahren nur den Nachnamen: Bevor Brad Pitt oder Jennifer Lawrence im Hauptfilm auftraten, schwenkten Lichtkegel über die Leinwand und formten das W der Weinstein Company. Selbst meine Kollegin Eva Thöne aus dem Kulturressort sagt, sie habe den Filmproduzenten eher vage gekannt aus den Intros einiger Tarantino-Filme – bis zum Herbst 2017.
Da berichteten die “New York Times” und der “New Yorker” unabhängig voneinander, wie Weinstein über Jahrzehnte Schauspielerinnen und Arbeitnehmerinnen belästigt hatte: Die Berichte traten die #MeToo-Bewegung los. “Ich konnte nicht sofort absehen, was für globale Wellen aus dieser einen Recherche entstehen würden”, sagt Eva. “Aber so passiert gesellschaftlicher Wandel eben manchmal.”
Mit den zwei Frauen, die diesen Wandel angestoßen haben, konnten Eva und ihre Kollegin Laura Backes jetzt sprechen: Die “NYT”-Reporterinnen Jodi Kantor und Megan Twohey waren damals den Gerüchten nachgegangen und ließen nicht locker, bis sie Weinstein die Angriffe nachweisen konnten. “Bei ihrer Recherche haben sie Stars wie Gwyneth Paltrow und Brad Pitt ans Telefon bekommen”, sagt Eva. Beeindruckt hat sie aber nicht nur die Arbeit der Reporterinnen, sondern auch ihr “Teamplayer-Auftreten und ihre uneitle Sachbezogenheit“. So hätten sie sich im Interview immer gleichberechtigt abgewechselt. Und sie haben über die Grenzen ihrer Arbeit geredet, Kantor sagt, sie sorge sich vor allem um Frauen, die nicht in Hollywood berühmt wurden: “Hat sich irgendetwas für die Kellnerin geändert, deren Boss sie begrapscht, während sie Hamburger rausträgt?”
SPIEGEL Update – Die Nachrichten
Was heute sonst noch wichtig ist
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Kreml wollte Referendum in Schottland beeinflussen: Eine Analyse aus dem britischen Geheimdienstausschuss zeigt:, dass Russland versucht hat, sich in das Unabhängigkeitsreferendum einzumischen. Auch zum Brexit-Referendum gibt es Fragen – und Kritik an der Regierung.
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Baden-Württemberg verbietet Gesichtsschleier in Klassenzimmern: Ein Nikab lässt nur die Augen frei. Im Südwesten dürfen Schülerinnen den Schleier künftig nicht mehr tragen. Laut Ministerpräsident Kretschmann braucht man selbst für Einzelfälle eine Regelung.
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Maas verlangt Ende türkischer Provokationen im Mittelmeer: Bei seinem Besuch in Griechenland hat der Bundesaußenminister die Erdgaserkundungen der Türkei vor der griechischen Küste verurteilt. Er warnte vor negativen Folgen für die Beziehung zur EU.
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Frauen werfen Moderatoren Übergriffe vor: Es geht um Anschuldigungen wegen sexistischer Demütigungen und Vergewaltigung. Der US-Sender bezeichnete die Beschuldigungen als “falsch”.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Was heute nicht so wichtig ist
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: “EU-Flagge in Bürssel”
Cartoon des Tages: Druck wächst
Und heute Abend?
Vielleicht doch mal wieder Netflix? Sie erinnern sich, vor ein paar Tagen hat mein Kollege Jonas Leppin mit den Hauptdarstellern Lena Klenke und Maximilian Mundt der Serie “How to Sell Drugs Online (Fast)” gesprochen. Jetzt lässt sich die zweite Staffel gucken – und meine Kollegin Elisa von Hof findet: “Selten wurde Erwachsenwerden so modern erzählt.” Hier finden Sie ihre Rezension.
In diesem Sinne: erst Abendessen, dann nichts wie Rausch.
Bis morgen. Herzlich,
Ihr Oliver Trenkamp
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