Am Ende war es Andrej Plenkovic, der für etwas Heiterkeit sorgte. Er müsse dann doch mal wieder in seine Heimat, sagte der kroatische Premier. Dort habe er nämlich eine Regierung zu bilden. Charles Michel, der EU-Ratspräsident, hatte die Staats- und Regierungschefs am Morgengrauen des Montags für ein paar Minuten noch einmal zusammengerufen, um sie über den neuen Verhandlungsstand zu unterrichten.
Im Gegensatz zu den vergangenen Verlautbarungen des Ratspräsidenten könnte dieser Vorschlag nun tatsächlich fliegen: Die Zuschüsse für von der Coronakrise besonders getroffene EU-Länder sollen bei 390 Milliarden Euro liegen. Auch bei der Frage, wie deren Vergabe kontrolliert werden soll, haben sich die Hauptgegner, Niederländer und Italiener, offenbar zusammengerauft. “Wir haben jetzt einen sehr guten Text, um den herum sich langsam ein Konsens herausschält”, sagte der niederländische Premier Rutte am Montagmorgen Journalisten. “Wir können mit dem heutigen Ergebnis zufrieden sein”, twitterte Sebastian Kurz.
Entscheidend wird nun sein, wie die Höhe der Beitragsrabatte im neuen Finanztableau ausfällt, die den Sparsamen (wie auch Deutschland) ebenfalls wichtig sind. Offen ist zudem, welchen Vorschlag zum Rechtsstaat Michel vorlegen wird. Immerhin: Auch Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hat mit seinem Veto gedroht.
Die gute Nachricht dieses Vormittags ist aber erst mal: Die Staats- und Regierungschefs wollen den Gipfel, bei dem es um insgesamt eine Summe von sage und schreibe 1,8 Billionen Euro geht, nicht an einer Differenz von 50 Milliarden Euro scheitern lassen. Dass das Ganze am Montag noch platzt, ist nicht ausgeschlossen, doch das will sich nun niemand vorstellen. Der Treff in Brüssel könnte als längster EU-Gipfel in die Annalen der Gemeinschaft eingehen – wenn er scheitert, würde sich die Gemeinschaft lächerlich machen. Einige Lehren aber lassen sich zu Beginn von Tag vier bereits ziehen:
1. Die kleinen Länder werden selbstbewusst
Mark Rutte sagte es Angela Merkel auf den Kopf zu, als es in der Nacht zum Sonntag hitzig wurde zwischen den beiden. Sie könne nicht erwarten, dass Deutschland und Frankreich einen 500-Milliarden-Euro-Plan vorlegen, noch dazu mit schuldenfinanzierten Zuschüssen, und ganz Europa dann einfach Ja sagt. Auch Kurz, mit Rutte in der Gruppe der “Sparsamen Vier” eng verbunden, freute sich: Im Verbund mit den anderen habe man ein ganz anderes Gewicht, sagte Österreichs Kanzler bei einem seiner regelmäßigen Besuche bei den Journalisten in der österreichischen Vertretung.
Unabhängig davon, ob der Widerstand der “Sparsamen Vier” gerechtfertigt ist und ökonomisch Sinn ergibt, klar ist: Deutschland und Frankreich bestimmen die Dinge in der EU nicht mehr allein, die kleinen Länder haben im Ringen um die Corona-Hilfen Selbstbewusstsein getankt. Merkel, die mit Abstand erfahrenste Verhandlerin auf Brüsseler Terrain, hat den Frust der Kleinen unterschätzt, so was passiert ihr nicht oft.
Wie tief der Frust lange Zeit saß, zeigte ausgerechnet die Kanzlerin in der Nacht zum Sonntag. Der Gipfel war offiziell schon vorbei, da raunzte Merkel Rutte an, weil der bei der Rechtsstaatlichkeit nun auch noch eine rote Linie gezogen hatte. Ein zumindest unglückliches Verhalten der Kanzlerin: Sicher, es gibt viel zu kritisieren am harten und oft kompromisslosen Auftreten Ruttes. Sein Eintreten für eine effektivere Rechtsstaatsklausel gehört nicht dazu.
“Sie haben alle spüren lassen, wer das Geld hat und wer es braucht”, sagte ein EU-Diplomat über die “Sparsamen Vier”. Der italienische Regierungschef Guiseppe Conte brachte diese Stimmung am Sonntag auf dem Punkt: “Europa wird erpresst”, sagte er.
2. Die Kanzlerin allein kann es nicht richten
Merkels Verhandlungsgeschick konnte dieses Mal lange Zeit keine Dynamik entfachen. Erst in der Nacht zum Sonntag verfing ihr Werben – mit tatkräftiger Unterstützung von Emmanuel Macron.
Immerhin, Deutschland hat derzeit die rotierende EU-Ratspräsidentschaft inne, und ein Scheitern des Gipfels wäre ein denkbar schlechter Start. Zudem hat Merkel mit ihrem überraschenden Kursschwenk gemeinsame europäische Schulden erst möglich gemacht – jetzt will sie nicht einfach zusehen, wie Rutte und Co. es einfach schreddern.
Auch die Verhandlungsführung von Michel wirft Fragen auf. Der Ratspräsident, so scheint es, will die Staats- und Regierungschefs durch Ausdauer zum Deal zwingen. Ansonsten ist seine Regie nicht immer überzeugend. Sie erlaubte es den “Sparsamen Vier” beispielsweise ab Samstag, ihre Trophäen einzuheimsen – reduzierte Zuschüsse, höhere Rabatte, mehr Kontrolle bei der Verwendung der Gelder-, ohne Gegenleistungen erbringen zu müssen, ein schwerer Fehler. Zum Start des Dinners am Sonntag appelliert er, man solle jetzt zur Einigung kommen. Es klingt ein wenig ratlos.
Am Samstagmittag hatte Michel angeboten, die Zuschüsse von 500, so der Vorschlag der EU-Kommission sowie von Merkel und Macron, auf 450 Milliarden zu kürzen, später ging er auf 400 Milliarden. Darauf machten die “Sparsamen Vier” am Sonntagabend ein Gegenangebot in Höhe von 350 Milliarden Euro. 50 Milliarden Euro – um diese Differenz ging es nun stundenlang. Die Südländer, die mit dem Geld die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise bekämpfen wollen, sahen fassungslos zu.
Dann die Gegenbewegung: Merkel und Macron saßen mit den um Finnland ergänzten “Sparsamen Vier” zusammen, es ist die Nacht zum Montag. Der Ratspräsident hat nach dem Dinner eine 45 Minuten lange Pause angesetzt. Die zog sich schließlich bis ins Morgengrauen.
Marcron schlug mit der Hand auf den Tisch, so ist zu hören, er ist sauer, er schimpft über den Egoismus der “Sparsamen”, den Kleingeist. Macron tut, was er am besten kann, er spricht vom Großen und Ganzen in Europa. Um vier Uhr steht man bei 375 Milliarden Euro an Zuschüssen, Macron drängt weiter, eigentlich will er nicht unter 400 Milliarden Euro gehen. Nun der neue Versuch, mit 390 Milliarden.
3. Orban macht erst mal weiter, was er will
Außer Reden ist nichts gewesen – das gilt bislang für den Rechtsstaatsmechanismus. Bei der Forderung, die Auszahlung von EU-Geld endlich daran zu knüpfen, dass die Empfänger sich rechtsstaatliche Prinzipien einhalten, sind sich die Staats- und Regierungschefs bislang nicht einig. Gleich zweimal stand das Thema auf der Agenda, beim Dinner am Samstag und dann wieder am Sonntag. Beide Male waren die Fronten völlig verhärtet.
Selbst Vertreter der “Sparsamen Vier”, die am lautesten auf den Rechtsstaatsmechanismus gepocht hatten, ließen nach Angaben von Diplomaten hinter vorgehaltener Hand durchblicken, dass die EU-Grundwerte auch für sie nur ein Verhandlungschip waren. Immerhin: So konnten sie davon ablenken, dass sie mit ihrer harten Haltung bei den Zahlen den Gipfel schon früh an den Abgrund gebracht hatten.
Auch Kanzlerin Merkel zeigte sich genervt. Als die dänische Premierministerin Mette Frederiksen beim Dinner am Sonntag ihren Kollegen vorwarf, den Rechtsstaatsmechanismuss über Bord zu werfen, wies Merkel sie mit harschen Worten in die Schranken.
Immerhin: Die Chance bietet sich nur alle sieben Jahre, dann, wenn ein neuer Mehrjahreshaushalt verhandelt wird. Klappt das diesmal nicht, haben Orbán und andere osteuropäische Regierungschefs genug Zeit, ihre Macht bis zum nächsten Anlauf noch weiter auszubauen. Kein Wunder, dass Orbán seine Gegner am Rande des Gipfels regelrecht verspottete: “Wer nicht bereit ist, die Rechtsstaatlichkeit zu akzeptieren”, sagte der Ungar, “sollte die EU sofort verlassen.”
4. Das Signal für die Welt
Die EU wollte eigentlich zeigen, dass sie es besser kann als die USA und China. Mit einem “wuchtigen” Programm wollten Merkel und Macron der Krise begegnen. Ein kraftvolles Signal, das kann man schon sagen, sieht anders aus. Das Ringen ist zäh, die Stimmung vergiftet, Wörter von “Erpressung” und “Hass” fliegen durch das Ratsgebäude, das für Journalisten gesperrt ist. “Du wirst für ein paar Tage in deiner Heimat ein Held sein”, sagte etwa Italiens Premier bei einem der vielen Treffen zu Rutte am Sonntagnachmittag, “aber nach einigen Wochen wirst du von allen europäischen Bürgern dafür verantwortlich gemacht werden, eine angemessene und effektive europäische Antwort blockiert zu haben.”
Einerseits. Andererseits zeigt die EU gerade vor den Augen der Welt, dass sie auch bei betonharten Verhandlungen und total verfahrenen Lage immer weiter nach einem Ausweg sucht. Das ist ihre DNA. Eine Konsensmaschine, die am Ende alle zu einem Ergebnis zwingt.
Und sei es vor allem aufgrund von Erschöpfung.